Von Hamburg auf dem Rade nordwärts (1897)

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Gregers Nissen, Von Hamburg auf dem Rade nordwärts, Reprint, Hamburg: Staatliche Pressestelle der Freien und Hansestadt Hamburg, 1979 (Erstaufl. Hamburg: Julius Bruse 1897).

Im Jahr 1897, inmitten des Fahrradbooms um die Jahrhundertwende, veröffentlichte Gregers Nissen (1867-1942) den vorliegenden Radführer mit zwei ausführlich beschriebenen Routen von Hamburg jeweils an die Nord- und Ostsee. Nissens Radreiseführer ist eine reiche historische Quelle, welche die Vorteile des Fahrrads als Reisemittel herausstreicht und gleichzeitig das Land, die Natur und die Menschen kenntnisreich und verständnisvoll portraitiert. Dass die seltene Schrift der Öffentlichkeit erhalten bleibe müsse, dachte bereits vor 35 Jahren die Staatliche Pressestelle des Hamburger Senates und gab sie deshalb als Reprint heraus; nicht zuletzt, da das Fahrrad seinerzeit „fröhliche Urständ“ feiere. Letzteres gilt um so mehr für die Gegenwart und Nissens „nordische Wanderfahrt“ bietet auch heute noch eine sehr gut geschriebene und unterhaltsame Zeitreise.

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Das handliche Büchlein sollte dem Radfahrer unterwegs als Orientierungshilfe dienen und zugleich aktuelle und historische Hintergrundinformationen liefern. Drei Spalten am linken Rand listen jeweils die Entfernung der gesamten Tour, die Gesamtstrecke in umgekehrter Richtung und die Entfernungen von Punkt zu Punkt auf. Markante Orte und Sehenswürdigkeiten sind fett hervorgehoben, um auf den ersten Blick schneller erfasst zu werden. Der Führer enthält allerdings keinerlei Karten; Nissen verweist vielmehr auf die „sorgfältig bearbeiteten Mittelbach'schen Karten“ und für Dänemark auf den „Danmarkskort“ (Begleitwort).

Die erste Tour – „Marsch-, Deich- und Inselfahrten“ – beginnt an den Hamburger Landungsbrücken. Mit Blick auf den pulsierenden Hafen eröffnet Nissen: „Dem Inländer thut sich hier eine gänzlich neue Welt auf.“ (S. 7) Per Dampfer überquert der Radreisende die Elbe, durch Moorburg fährt er ins Alte Land. Das „Kirschenland“ versetze einen „in eine andere ganz andere Weltgegend“, so anders seien die Menschen, ja so anders sei „alles“ dort. (S. 9) Im Mai sei die Strecke wegen der Blütezeit der Obstbäume besonders schön und werde vom landschaftlichen Reiz nur von der „Bergstrasse“ in der Pfalz erreicht.

Über Stade führt die Route nach Wischhafen, per Fähre nach Glückstadt, von dort via St. Margarethen nach Brunsbüttelhafen an den Nordostseekanal. „Die gewaltigen Schleusenwerke an der nahen Mündung des Kanals verdienen allgemeine Bewunderung und legen ein rühmlich Zeugnis für deutsches Können ab“, jubiliert Nissen über den kurz zuvor (1895) eingeweihten „Kaiser-Wilhelm-Kanal“. (S. 12) Nissen bescheinigt Brunsbüttel wegen der lebhaften Bautätigkeit „fast einen amerikanischen Eindruck“. Wie bereits im Alten Land sucht sein Blick nach Typischem und regionalen und lokalen Besonderheiten und findet immer wieder „Fremdes“ in der weiteren Heimat.

Die Reiseroute geht weiter in Richtung Norden und durchquert Marne, ein „schmucke[s] Städtchen“, wo das „Museum des dortigen Skat-Clubs“ besonders gut gefalle. Meldorf, Büsum, Wesselburen, Tönning und  Husum sind die weiteren Stationen. Außer Storm habe Letztere aber „wenig Poesie“ zu bieten, befindet Nissen. (S. 15) Hattstedt, Bredtstedt, Dagebüll und Tondern heißen die nächsten Anlaufpunkte. Endstation auf dem Festland ist Hoyer, dem damaligen Fährhafen für die Dampfer nach Sylt. (Nach dem Ersten Weltkrieg und den Gebietsabtretungen an Dänemark wurde der Hindenburg-Damm errichtet, um die Insel von deutschem Gebiet aus erreichen zu können). In Westerland, „dem fashionablen Badeorte“ begegnet Nissen mondänem und geradezu internationalem Flair: „Ein unvergleichliches Bild bietet uns dieser Ort; man glaubt sich in einen türkischen Bazar versetzt. Laden an Laden, die buntesten Sachen enthaltend, befindet sich in den Strassen, und dann die ungeheure Zahl von Fremden in den verschiedenen fantastischen Gewändern.“ (S. 18) Nach den vorangegangen Naturerlebnissen ist Nissen vom lebhaften Charakter Westerlands geradezu überwältigt (und auch Radreisende der heutigen Zeit machen ähnliche Erfahrungen, wenn Natur und Stadt sich abwechseln und die Erlebnisse sich dadurch verstärken). Nach Wyk auf Föhr erreicht die erste Tour in Amrum ihr „Endziel“ und schließt mit Informationen für die Rückreise per Schiff und Bahn.

Nach der Nordsee geht es in der zweiten Tourbeschreibung – „Durch Schleswig-Holsteins Fluren nach Kopenhagen“ – an die Ostsee. Wiederum bildet Hamburg den Ausgangspunkt und über Bergedorf, Reinbek, Friedrichsruh, Grande, Mölln und Ratzeburg führt der Weg nach Lübeck, dem „norddeutsche[n] Nürnberg“. (S. 27) In Travemünde wird erstmals die Ostsee erreicht, die weiteren Stationen bilden Timmendorf, Eutin, Schönwalde under Bungsberg. „Man sieht die Ostsee, die Insel Fehmarn und bei klarem Wetter die dänischen Inseln.“ (S. 30) Über Malente und Lütjenburg kehrt die Route zur Ostsee zurück, ins „am schneeweissen Strand“ gelegene Hohwacht. (S. 33)

Der vorgeschlagene Weg geht weiter nach Kiel, in die Eckernförder Bucht, Schleswig und Flensburg, „eine der schönsten deutschen Hafenstädte“, wie Nissen meint. (S. 37) Die Gegend nördlich von Flensburg gefällt ihm besonders gut, über die Strecke nach Kollund schreibt er: „Dieser Weg, mit seinen prächtigen Durchblicken auf die schimmernde Föhrde, mit seinen romantischen Schluchten, sucht seinesgleichen in ganz Norddeutschland.“ (S. 38) Am Wegesrand nach Sonderburg und Apenrade weist Nissen immer wieder auf Schauplätze des dänisch-preußischen Krieges von 1864 hin. 14 Kilometer nördlich von Hadersleben, das „ausser der schönen Marienkirche an Sehenswürdigkeiten weiter nichts“ zu bieten habe, überschreitet die Route dann die deutsch-dänische Grenze, „die jeder Radfahrer, der zum Vergnügen reist, ohne Pass und ohne Zollplackereien überschreiten kann, ein nicht geringer Vorzug gegen unsere Grenzen im Süden.“ (S. 40) Das Gebiet um Veile sei gekennzeichnet durch „eine so prächtige Lage, dass sie nicht mit Unrecht das dänische Paradies genannt wird.“ (S. 41) Gregers Nissen fühlt sich sichtlich wohl in Dänemark, wo die Preise im Vergleich zu Deutschland niedriger seien und die Menschen überaus freundlich, so seine Wahrnehmung. Für den Radreisenden habe Dänemark zudem weitere Vorteile: „Der Radfahrsport hat in den breiteren Volksschichten, namentlich unter den Landleuten, viel mehr Verbreitung gefunden wie bei uns.“ (S. 42)

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In der Hauptstadt der Insel Fühnen, Odense, hebt Nissen das Museum nordischer Altertümer hervor, in Roskilde findet er „eines der prachtvollsten Monumente Dänemarks“, die weithin sichtbare Domkirche: “Das Innere des Domes macht einen prächtigen Eindruck.“ (S. 43) Nach weiteren 30 Kilometern endet die Route – „endlich“ – in Kopenhagen, der dänischen Hauptstadt, die Nissen als Höhepunkt der insgesamt 643 Kilometern langen Strecke präsentiert und ihr dementsprechend den meisten Raum widmet. Drei Tage solle man dort mindestens verbringen, um die zahlreichen Sehenswürdigkeiten in Augenschein zu nehmen, so sein Ratschlag. Nissen empfiehlt u.a. die Besichtigung der Frauenkirche, der Marmorkirche, verschiedener Museen wie Thorwaldsens Museum, des Schlosses Frederiksborg, etc. „Einen Tag muss man daran wenden eine Fahrt am Oeresund entlang zu machen nach Helsingör und weiter nach Fredensburg und Hilleröd.“ (S. 45) Nissen überschlägt sich fast mit Tipps für den Aufenthalt in Kopenhagen und seine Begeisterung angesichts der dänischen Metropole, ihrer Schönheit und der Gelassenheit der Bevölkerung ist deutlich zu vernehmen.

Gregers Nissens Radführer durch Norddeutschland und Dänemark erschien in einer Zeit, als das Radwandern noch in den Kinderschuhen steckte. Seine Schrift ermuntert den Leser (und sicherlich auch einige damalige Leserinnen) die beschriebenen Schönheiten der Natur und die jeweiligen kulturellen Besonderheiten selbst zu erleben. Der Ablauf der Tour verstärkt dabei die jeweiligen Eindrücke, die mit Kopenhagen auf der zweiten Tour unübersehbar ihren Gipfel erlangen. Hier erkennen wir den „internationalen“ Radwanderer Gregers Nissen, der die Grenzen der von ihm geliebten Heimat hinter sich lassen und auf dem Rade Neues entdecken möchte. „Von Hamburg auf dem Rade nordwärts“ versprüht Pioniergeist und völlig zu Recht ist Nissen als „Prophet des Radwanderns“ bezeichnet worden. Nissens Begeisterung gegenüber dem Radwandern und der Reisetauglichkeit des Fahrrades wirkt auch heute noch ansteckend.

Hamburg-Altona, 10. April 2014 / Lars Amenda