Emil Naucke (1855-1900) – „der schwerste Radfahrer der Welt“

Von Lars Amenda

Heute sagt der Name „Naucke“ in Hamburg wohl nur noch den wenigsten etwas. Dabei war „Naucke“ bis in die 1970er Jahre in Hamburg ein geflügeltes Wort für, nun ja, sehr beleibte Menschen.

Dies ging zurück auf Emil Naucke, der 235 Kilogramm gewogen haben soll und nicht nur aufgrund seiner Leibesfülle eine sehr markante Persönlichkeit gewesen sein muss. Naucke wurde 1855 auf der vor Wismar gelegenen Insel Poel geboren und starb 1900 im Januar 1900 in Hamburg, wo er seit 1890 lebte. Bereits im zarten Alter von 14 Jahren schloss er sich einer Artisten-Gruppe an, mit der er durch Europa und die Vereinigten Staaten von Amerika tingelte. Der Artist Emil Naucke stemmte vor dem Publikum Gewichte und behängte sich beispielsweise mit einer 40 Kilogramm schweren Eisenkugel, mit der er dann ohne sichtbare Kraftanstrengung herumspielte.

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„Er hatte ein ausgesprochenes zartes Gemüt, das man bei Kraftmenschen weniger vermutet,“ wie Carl Thinius anmerkt. Emil Naucke verfügte über ein ausgeprägtes humoristisches Talent. In einer seiner Unterhaltungsnummern tanzte er etwa als Ballerina verkleidet, was die Zuschauer angesichts seiner nicht gerade mädchenhaften Figur erheiterte. „Auch als Seiltänzer und artistischer Radfahrer“, so abermals Thinius, „leistete er Vorzügliches“.

Wie im Einzelnen seine Kunststücke auf dem Fahrrad aussahen, ist leider nicht überliefert. Vermutlich führte er Balancierakte auf dem Fahrrad vor, die seinerzeit im Kunstradfahren beliebt waren. Mit seinen Rad-Nummern überraschte Naucke das Publikum, so viel ist sicher, stand die Beweglichkeit des Fahrrads doch mit seiner Leibesfülle im scharfen Kontrast.

Eine weitere Nummer bestand in einem Duett mit dem kleinwüchsigen Gastwirt Peter Hansen - „Kolossalmensch Emil Naucke u. Zwerg Hansen“. Das groteske Paar und ihre einstudierten Kunststücke soll das Publikum außerordentlich gut amüsiert haben. Sie stellten sich damit in  Tradition von „Freak-Shows“, die seit dem 18. Jahrhundert auf Jahrmärkten und zu anderen Anlässen menschliche Abnormalitäten dem sensatioslüsternen Publikum darboten und auf diese Weise die menschliche Neugierde gegenüber dem Fremden und Absonderlichen befriedigten.

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Emil Nauckes Erfolg war so groß, dass er 1896 ein eigenes, seinen Namen tragendes Varieté am Spielbudenplatz eröffnen konnte (“Emil Naucke’s Variéte”).

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Ein interessantes Detail der Fahrradnummern bestand darin, dass Naucke und Hansen als Werbeträger für die Marke „Hess-Räder“ aus Mannheim auftraten und von ihnen gesponsert wurden.

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Eine weitere Bildpostkarte zeigt Naucke auf dem Fahrrad vor einem Bergpanorama. Er preist sich hier als „der schwerste Radfahrer der Welt!“ an und wollte seinen Status als Werbeträger für die Fahrrad-Industrie damit wohl festigen. Die Botschaft war: Wenn selbst außerordentlich schwere Menschen wie Naucke sich ohne Gefahr auf einem bestimmten Fahrrad fortbewegen konnten, dann dokumentierte dies die Leistungsfähigkeit und Robustheit des jeweiligen Rades. Dass sicherlich die eine oder andere Modifikation an den Rädern für Naucke vorgenommen wurde, wurde dabei stillschweigend unter den Tisch gekehrt.

Wann Emil Naucke mit seinen Fahrradnummern anfing, ist nicht bekannt. Es fand jedoch inmitten des dynamischen Fahrradbooms der 1890er Jahre statt. Naucke persiflierte einerseits mittels seiner Figur die neue, durch das Rad bedingte Beweglichkeit; andererseits bestätigte er aber die Leistungsfähigkeit des Fahrrads, das selbst ein veritables Schwergewicht wie ihn tragen konnte.

Ob Emil Naucke auch in seiner Freizeit mit dem Fahrrad fuhr oder ob er es nur als Instrument für seine Nummer verwendete, ist nicht bekannt. Im Hamburg der Jahrhundertwende avancierte Naucke jedenfalls zu einer sehr populären Persönlichkeit.

Dies offenbarte sich nach seinem plötzlichen Tode im Alter von nur 45 Jahren. Der Deutsche Radfahrer-Bund veranstaltete im Januar 1900 im Ballhaus von  Sagebiel in der Drehbahn ein Fest, bei dem Naucke eine seiner Nummern aufführte. Nach deren Ende fuhr er in einen Nebenraum, fühlte sich urplötzlich schlecht und verstarb an einem Herzinfarkt.

Bei der Überführung seines Sarges von seinem Varieté am Spielbudenplatz zum Ohlsdorfer Friedhof säumten Abertausende die Straßen und gaben ihm das letzte Geleit. Sein Grabstein ist noch heute in Ohlsdorf, in der Nähe des Haupteingangs beim Fiedhofsmuseum, zu besichtigen.

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Bildnachweise: Signor Saltarino: Artisten-Lexikon / Carl Thinius, Damals in St. Pauli (2x) / ABC-Archiv / Lars Amenda (2x)

Quellen und Literatur: Sammlung des Altonaer Bicycle-Clubs von 1869/80; Carl Thinius, Damals in St. Pauli. Lust und Feude in der Vorstadt, Hamburg: Christians, 1975, S. 54f, 59; Hans Scheugl, Show Freaks & Monster. Sammlung Felix Adanos. DuMont Buchverlag: Köln, 1978, S. 124; Signor Saltarino, Artisten-Lexikon. Biographische Notizen über Kunstreiter, Dompteure, Gymnastiker, Clowns, Akrobaten … aller Länder und Zeiten. Mit einer Einf. von Roland Weise, Reprint, Leipzig: Zentralantiquariat der DDR, 1987 (Erstaufl. Düsseldorf 1895).

Hamburg, den 12. August 2016