24 Stunden Rennen in Nortorf

Dichte Nebelschwaden wabern durch die dunkle Baumallee. Die Straße steigt leicht an. Ich versuche möglichst locker im Sattel zu sitzen und rund zu pedalieren. Es ist mitten in der Nacht, etwa  01:30 Uhr. Dieser dichte Nebel macht die Sache nicht einfacher. Selbst bei klarer Sicht schirmt das grüne Blätterdach die Straße so gut ab, dass das Mondlicht kaum eine Chance hat die brüchige und vielfach geflickte Asphaltdecke zu erreichen. Konzentriert folgen die Augen dem Lichtkegel der Lampe. Wassertropfen des nässenden Nebels sammeln sich an Augenbrauen und Wimpern. Akribisch suchen die Augen die ideale Linie. Und sie ist keineswegs die kürzeste Verbindung. Leicht mäandrierend gilt es auf einigermaßen fahrbarem Grund zu bleiben und die gröbsten Stellen des Flickenteppichs zu umfahren. Die Straße steigt weiter an. Ich horche in mich hinein, ob ich den Schaltpunkt halten kann wie zuvor oder ob ich früher schalten muss. Ja, es geht noch. Es ist nur ein Detail, aber es polstert das Selbstbewusstsein. Das tut nach über 370 Kilometern richtig gut. Denn die Hauptfrage ist nicht, wie viele Kilometer hinter mir liegen, sondern wie viele noch vor mir liegen, bis die Uhr nach 24 Stunden gnadenlos stoppt. Bei der Steigung von Runden-Kilometer 15 handelt es sich eigentlich um läppische 50 Höhenmeter. Eigentlich. – Denn das Fahrerfeld ist geschlossen der Meinung, dass die Höhenmeter von Runde zu Runde zunehmen. Uneinigkeit herrscht lediglich darüber, wie die Waldwichtel dies bewerkstelligen. Die Vermutungen gehen von einfachem Schaufeln bis hin zu komplexen hydraulischen Mechanismen. Und die Sache ist ernst zu nehmen.

Denn das Fahrerfeld besteht aus über 170 zum Teil sehr erfahrenen Langstreckenradlern. Einmal jährlich rotten sie sich im nördlichen Schleswig-Holstein zusammen und messen sich beim 24 Stunden Rennen der RSG Nortorf. Gefahren wir auf einer Rundstrecke von 27,87 Kilometer Länge. Start und Ziel, und somit auch das Verpflegungsdepot, liegen in Nortorf. Auf einem nahezu gleichseitigen Dreieckskurs geht es über Aukrug und Oldenhütten wieder nach Nortorf. Das Reglement ist denkbar einfach. Innerhalb von 24 Stunden müssen so viele Runden wie möglich absolviert werden. Gewertet werden nur vollständig gefahrene Runden. Im Start-, Zielbereich befindet sich eine Kontaktschleife für die Registrierung der Runden und Zeiten per Transponder.  Zwei großformatige Anzeigen geben den Fahrern die wichtige Information über die Uhrzeit und vor allem über die Restfahrzeit. Diese Uhr läuft von 24:00:00 unerbittlich runter auf Null. Pro Runde sind insgesamt 152 Meter Anstieg zu fahren. Das ist keine große Nummer und daraufhin wird der Kurs von manchem Fahrer belächelt. Und unterschätzt. Denn der eigentliche Gegner ist, neben der Uhr, der Wind. Wir befinden uns hier im Land zwischen den Meeren. Eine aerodynamisch saubere Position (wie im Lenkeruntergriff) bringt da mehr als ein Kilogramm Gewichtseinsparung beim Rad.

Das diesjährige Rennen gehe ich mit einem festen Ziel an. 2015 war ich nicht am Start, da der Termin nicht zu meiner Teilnahme am Transcontinental Race passte. In 2014 gelangen mir 19 Runden. Damit steht das Ziel für 2016 fest. – 20 Runden. 20 mal 27,87 Kilometer. 557,40 Kilometer in 24 Stunden.

Der Zählschritt von 19 zu 20 ‚verniedlicht‘ die Sachlage erheblich. Faktisch bedeutet es, in 24 Stunden 27,87 zusätzliche Kilometer zu absolvieren.  Dazu ist eine wohlüberlegte Taktik sehr hilfreich. So sah mein Basisszenario insgesamt zwei Stunden Pausenzeit vor. Das heißt, die Weg-Zeit Betrachtungen sind auf eine Nettofahrzeit von 22 Stunden ausgelegt. Was bedeutet dies konkret? Zunächst sind für das Ziel von 20 Runden, pro Stunde 1,27 Kilometer mehr zu absolvieren (gegenüber 19 Runden). Klingt wenig, ist es aber nicht. Für die einzelne Runde ergibt sich eine maximale Fahrzeit von 1:06 (1 Std 6 min). Das entspricht einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 25,3 Km/h. Klingt auch nicht viel, will aber über die Gesamtzeit erst einmal gehalten werden.

Und was unbedingt bewusst sein sollte, jede Verlängerung der Pausenzeit ist mit einer höheren Geschwindigkeit zu bezahlen. Eine halbe Stunde mehr Pause erhöht die erforderliche Geschwindigkeit auf 25,9 km/h, eine Stunde mehr Pause auf 26,5 km/h. Einmal auf der Piste heißt es also Disziplin, Kopfrechnen und keinen Plattfuß…

Am Morgen des 16. Juni ist es dann soweit. Die Teilnehmer trudeln ein und bereiten ihre Räder vor. Es wird noch gepumpt und geschraubt. Transponder werden in ihre Position gebracht. Mit sichtlicher Irritation beobachten zwei Carbon-Piloten, wie ich meinen Glücksbringer montiere. Ich lächle sie freundlich an, worauf sie sich etwas ertappt fühlen, und setze die Arbeit mit der Selbstverständlichkeit fort, mit der man sonst seine Trinkflasche in den Halter schiebt. Natürlich ist es selbstverständlich, dass mein Schlumpf mit auf Tour geht. Schließlich begleitet er mich seit 1984 auf Touren und Events, und hat schon etwas von der Welt gesehen. Außerdem ist an meinem  Pure Bros extra ein adäquater Schlumpfhalter montiert.

Wir Fahrer sammeln uns für das Briefing auf den Rädern an der Startlinie. Obwohl hier nicht wenige Routiniers stehen, zupft wohl jeder (unbewusst) noch einmal das Trikot zurecht, justiert zum dritten Mal den Kinnriemen vom Helm oder verändert zum fünften Mal die Einstellung der Schuhverschlüsse, um genau in der Anfangseinstellung zu landen.

Der Start um 10:00 ist dann fast eine Erleichterung. Neutralisiert geht es im Verband bis an den Ortsrand von Nortorf und dann ist das Rennen frei. Wie immer wird von Anfang an ordentlich Dampf gemacht. Das ist Chance und Risiko zugleich. Natürlich ist es nett, mittels einer Gruppe die Windarbeit deutlich zu reduzieren. Das ist jedoch völlig wertlos, wenn man sich gleich zu Anfang verzockt und dicke Beine bekommt. Schließlich haben wir eine respektable Distanz vor uns. Meine Taktik (und Stärke) beruht auf ausgeprägter Gleichmäßigkeit und eher kurzen Pausen. Grundsätzlich takte ich meinen Rhythmus dergestalt, dass ich solo über die Gesamtdistanz fahren kann.

Ich bleibe verhalten und finde eine Gruppe, die passt. Die zunächst passt. Denn bereits nach der ersten Runde fällt das kleine Peloton auseinander, da einige Fahrer das Depot ansteuern. Meine Taktik sieht nur alle vier Runden eine Pause vor. Außer zum ganz kurzen Auffüllen der Trinkflasche stoppe ich also nur alle 111 Kilometer. Grob sehe ich einen Pausentakt von jeweils  15 / 30 / 15 / 30 …Minuten vor. Wohlwissend, dass der Pausenbedarf bei schlechtem Wetter und in der Nacht höher ist. Das Wetter spielt mit. Die Temperaturen sind in Ordnung und der Wind weht mit nur  3 Beaufort aus westlichen Richtungen.

Trotz der Zurückhaltung fällt die erste Runde mit einer Fahrzeit von deutlich unter einer Stunde flott aus und kann natürlich keineswegs zu Hochrechnungen herangezogen werden. Insgesamt läuft es auf den folgenden Runden aber auch nicht schlecht. Jede Runde liegt deutlich unter 1:06. Anfangs bin ich etwas skeptisch, ob ich vielleicht über meine Verhältnisse fahre, aber es fühlt sich alles rund und ausgeglichen an. Und so lasse ich es dann einfach weiter laufen. Jede eingesparte Minute gibt mir etwas mehr Luft für Pausen in der Nacht. Oder für Plattfüße! Am frühen Nachmittag erwischt es mich dann auch. Ein scharfes Stück Splitt in der Form eines Minifaustkeils durchstößt den Pannenschutz meines Hinterreifens. Der Schlauch ist schnell gewechselt. Bei der Weiterfahrt rede ich mir dann ein, dass ich damit statistisch betrachtet ohne Plattfuß durch die Nacht kommen sollte. Ich lasse es weiter mit der eingependelten Geschwindigkeit laufen. Hin und wieder finde ich Gruppenanschluss. Die überwiegende Zeit kurbel ich allerdings solo. Interessanter Weise überholen mich immer wieder die gleichen Gruppen (ohne mich dabei zu überrunden). Sie machen eben längere Pausen. Ich bleibe bei meiner bewährten Fahrweise. Einen Geschwindigkeitsmesser fahre ich übrigens nicht. Mir reichen die Armbanduhr und die Anzeige im Start-, Zielbereich.

Nachdem es schon eine ganze Weile nieselt, dreht der Wind am Nachmittag auf Südwest, frischt auf und sorgt ab 16:00 für gut zwei Stunden Regen. Das ist nun nicht toll, aber auch nicht wirklich schlimm, denn der Regen ist eher warm. Zögerlich klart es auf. Der Wind geht auf West und nimmt an Stärke etwas zu. Wir Fahrer hoffen auf eine trockene Nacht.

Die 10.Runde lege ich in  1:00 zurück und gönne mir zum Bergfest eine ordentliche Pause und reichlich Kohlehydrate. Die freundliche Uhr im Start-, Zielbereich attestiert mir eine Restfahrzeit von 12:59:88. Es ist aktuell 21:00 Uhr. Somit habe ich für die ersten 278,7 Kilometer ziemlich genau 11 Stunden benötigt. Und zwar inklusive der Pausen. Die Durchschnittsgeschwindigkeit lag demnach bei etwas über 27 km/h. Damit bin ich super zufrieden und genieße die Erholung. Aber abgerechnet wird zum Schluss. Vor mir liegt die Nacht. Und noch einmal 278,7 Kilometer!

Auf in den Sattel. Wie es scheint liegt eine klare Nacht mit einem fast vollen Mond vor uns. Der Wind hat sich wieder beruhigt. Nicht die schlechtesten Voraussetzungen. Runde 11 und 12 (1:02) laufen ebenfalls richtig gut. Während der beiden Runden denke ich über den weiteren Pausentakt nach. Vier Runden zu fahren hieße nun bis nach 02:15 Uhr durchzukurbeln, also voll ins biologische Tief zu fahren. Da ich gut in der Zeit bin, beschließe ich nach der 12. Runde eine extra Pause einzulegen, um dann gestärkt die unangenehme Zeit bis zum Morgengrauen anzugehen.

Die Verpflegung ist großartig und der RSG Nortorf mit ihren vielen engagierten Helfern gebührt ein großes Lob. Bei dieser Pause bin ich zeitlich nicht ganz so diszipliniert. Aber vermutlich nimmt sich der Körper instinktiv, was er braucht. Als ich wieder auf das Rad steige, ist es bereits Mitternacht. Es sind noch acht Runden zu fahren und die Restfahrzeit beträgt exakt 10 Stunden. Das sollte lösbar sein.

Aber jetzt kommt die schlimmste Zeit eines 24 Stunden-Rennens. Die Zeit, zu der der Körper sehr viel lieber Schlafen als Radfahren möchte. Das bekomme ich auch deutlich zu spüren. Die 13. Runde absolviere ich in 1:13. Die schlechteste Runde meines bisherigen Rennens. Das rüttelt mich ordentlich wach. Sofort springt der Kopfrechner an und prüft die  Möglichkeiten. Noch ist es nicht verloren. Die nächsten 7 Runden müssen eben sehr konzentriert gefahren werden. Vor allem die nächsten drei, bis zum Morgengrauen. Wie während des gesamten Rennens, kalkuliere ich ausschließlich mit Runden. Andernfalls müsste ich mir nun sagen – Okay. Es ist 01:13 Uhr,  Du hast 362 Kilometer in den Beinen und fährst dann mal die nächsten 195 Kilometer schön konzentriert. Eine wenig erbauliche Vorstellung. Nein, die Rundenbetrachtung macht die Sache mental deutlich handlicher.


In der 14. Runde finde ich mich dann  im dicksten Nebel wieder. In der Höhe eines Begrenzungspfahls lassen sich die Reflektoren des nächsten mehr erahnen als wahrnehmen. Die Sichtweite liegt unter 50 Meter. Die Straße auf diesem Abschnitt  ist eine echte Prüfung. Und das sind die Bedingungen, unter denen ich keine  Zeit verlieren will. Die äußeren Umstände erfordern nun eine starke innere Haltung. Ich bin froh, in der Anfangsphase nicht unnötig Körner vergeudet zu haben. Ich versuche meine Kraft und Energie möglichst dosiert und gleichmäßig auf die Pedale zu bringen und drehe so meine Runden durch die feuchte, nebelige Nacht. Nach der 15. Runde gibt es ein Käffchen und Herzhaftes vom Buffet. Noch 5 Runden (139 Kilometer). Mit der aufgehenden Sonne schwindet irgendwann der Nebel und die Lebensgeister laufen zu neuer Form auf.

Nach 18 Runden zeigt die Uhr eine Restfahrzeit von 2:25 an. Daran ist zu erkennen, dass die zweite Nachthälfte etwas Performance gekostet hat. Aber das Zeitkontingent ist nicht das schlechteste. Da ich mir nun nach etwas über 500 Kilometern mein 20-Runden-Ziel nicht durch einen Plattfuß vereiteln lassen möchte, forciere ich die seit zwei Runden eh wieder besser werdenden Rundenzeiten weiter. Konsequent greife ich den Lenker in der unteren Position. Die 19. Runde absolviere ich in 1:06. Somit bleiben mir für die letzte Runde 1:19. Das würde sogar noch für einen Schlauchwechsel im Falle eines Plattfußes reichen. Das Ziel ist nun zum Greifen nah. Nach über 529 Kilometern fahre ich noch eine sehr konzentrierte Runde  und erreiche nach 1:04 das Ziel.

20 Runden, 557,4 Kilometer, die Anzeige zeigt  00:15:00. (15 Minuten Restfahrzeit). Es ist Sonntag 17.07., 09:45. Und ich bin sehr zufrieden.

Rückblick

Einmal auf der Piste ist der Blick natürlich nach vorne fokussiert. Daher folgen an dieser Stelle ein paar Rückblicke.

Das Training insgesamt und für eine höhere Grundgeschwindigkeit hat auf den Punkt gepasst.

Meine Taktik ist aufgegangen. Ein Rundstreckenrennen lässt dabei einfach über die Rundenzeiten kontrollieren und steuern. Das persönliche  Ziel erreicht oder verfehlt man nicht nur im Sattel. Das Zeitmanagement der Pausen ist ebenso wichtig. Ich habe die Pausenzeit meines Basisszenarios zwar überschritten, aber ich habe mir das bewusst gegönnt. Die Uhr und die Hochrechnung hatte ich stets im Auge und damit auch die Kontrolle. Richtig gefährdet sah ich das Erreichen des Ziels nicht. Aber man muss eben scharf kalkulieren und gegebenenfalls auch so fahren. Der verbleibende Zeitpuffer von 15 Minuten mag angesichts der absolvierten 24 Stunden wenig erscheinen. Aber man kann es eben auch als jeweils eine Minute auf 15 Runden betrachten. Und das ist schon wieder viel.

Mein PURE BROS hat sich von einer seiner besten Seiten gezeigt. Gerade auf den rauen und geflickten Straßen sorgen der Stahlrahmen und die 28 mm Continental Grand Prix 4 Season Reifen für ein sehr angenehmes Fahrverhalten. Obwohl ich den Einsatzschwerpunkt meines Rades für Reisen mit Campinggepäck vorgesehen habe, ist die Geometrie des Rades sportlich genug, um bei Langstreckenevents zu begeistern. Und sie sorgt bei vielen Stunden im Sattel für entspanntes Fahren.

Hamburg, den 24. Juli 2016  / Andreas Th