Hamburg-Berlin (15.10.)

Ende des Sommers kribbelte es nach längerer Rennradabstinenz wieder in den Beinen und der Wunsch nach extensivem Radfahren brach sich mehr und mehr Bahn. Also reifte der Entschluss vor dem Winter noch einmal das Abenteuer zu suchen und ich meldete mich für HH-B an. In der verbliebenen Zeit bis zum Start versuchte ich noch ein paar Kilometer auf das Tachometer zu spulen und fand in Udo einen motivierten Mitstreiter, der sich überdies auch als Windschild andiente. Anfangs konnte ich kaum das Hinterrad halten und bei der ersten Tour über 100 km in der zweiten Septemberhälfte erlebte ich einen bösen Einbruch. Nicht die besten Voraussetzungen also für HH-B. Aber mit jeder weiteren Tour stieg die Formkurve an und Anfang Oktober kam der ultimative Test in Form einer 160er Runde, die letzte Gewissheit brachte, dass es schon irgendwie klappen sollte mit der Ankunft in Berlin. Während der ganzen kurzen Vorbereitung klebte ich bei den gemeinsamen Touren quasi an Udos Hinterrad, da „vorne" fahren ob der angeschlagenen Geschwindigkeit kaum bis gar nicht möglich war.  Es hatten noch mehrere ABCer und weitere Bekannte Interesse an HH-B bekundet aber aus diversen Gründen standen wir letztlich leider dann doch nur zu zweit bei frischem Wind und kühlen Temperaturen im Dunkeln am Start. 

Für Udo sollte es die Premiere über diese Distanz und überhaupt das erste mal sein, eine Tour über 200 Kilometer und mehr zu versuchen. So machten wir uns kurz vor 7 auf zu einer Fahrt ins Ungewisse. Praktisch mit der ersten Kurbelumdrehung fing es an zu tröpfeln. Glücklicherweise konnte sich der Regen zunächst nicht dazu entschließen, uns gänzlich zu durchnässen. Der am Deich recht deutlich zu spürende und Kälte verströmende Gegenwind war jedoch schon einmal Vorbote der vor uns liegenden Strapazen. Wir legten uns nach dem Start gleich ordentlich ins Zeug, denn in der Ferne waren 5 rote Lichter in Sicht, die etwas Windschatten versprachen. Nach etwa 4 Kilometern schlossen wir auf und wurden Teil der Gruppe. Die Gruppe lief recht harmonisch und es war bei dem Gegenwind eine tolle Sache, die Arbeitslast auf mehrere Schultern verteilt zu wissen. 


Natürlich trugen auch wir unseren Teil an der Führungsarbeit bei. Aufgrund der widrigen Witterungsverhältnisse dauerte es sehr lange, bis wir endlich unsere Beleuchtung ausschalten konnten. Im landschaftlich reizvollen Teil der Strecke zwischen Bleckede und Hitzacker waren die Straßen endlich mal trocken und die Stimmung in der Truppe stieg merklich an. So erfreuten wir uns an dem dortig hügeligem Terrain und schossen die kurzen Abfahrten bestens gelaunt hinunter.
Etwa bei KM 70 wurden wir nach einigen Überholvorgängen letztlich von einer Riesengruppe mit Tandem-Schrittmacher „geschluckt“. Ob der Größe der Gruppe war zunächst nicht klar, wer sich wo von den 7 Mitstreitern befand. Ich fuhr zuvor an zweiter Stelle und orientierte mich einfach an meinem Vordermann. Leider hatten sich seine vier Begleiter aus der Meute zurückfallen lassen und Udo hatte es ihnen gleich getan. Als er merkte, dass ich offenbar gewillt war, in der Riesengruppe zu verweilen, entschloss er sich unter Aufwendung beträchtlicher Ressourcen, alleine wieder an die Truppe ranzufahren. Ich ließ mich derweil immer weiter aus meiner vorderen Position zurückfallen, um zu schauen, wo die übrigen Mitstreiter abgeblieben waren. Als ich am Ende der Gruppe angelangt war, schloss Udo gerade wieder auf. Mit recht gesunder Gesichtsfarbe und erhöhter Atemfrequenz berichtete er mir von dem erlebten Ungemach. Wichtige Körner wurden vergeudet. Bis nach Dömitz waren es noch etwa 10 KM und die  Riesengruppe zerriss aufgrund der winkligen Strecke in immer mehr kleine Grüppchen.  Auch hier wurden weitere Körner verschwendet, da sich immer wieder Löcher nach scharfen Kurven auftaten, die wieder zugefahren werden mussten. In Dömitz kam dann die Verpflegung wie gerufen. Leider setzte dort der Regen verstärkt ein und die Temperaturen schienen etwas zu fallen. 

Lange hielten wir uns deshalb nicht auf und fuhren zu zweit weiter, da aus der 5er Gruppe vom Start leider 2 Mitstreiter noch vermisst wurden. War zuvor noch viel Radverkehr auf der Strecke gewesen, wurde es mit einem male recht einsam.  Für Udo begann spätestens jetzt ein Martyrium, welches ihn die nächsten circa 80 km hartnäckig begleiten sollte. Er hatte sich noch nicht wieder erholt von der vorherigen Hatz und konnte das Hinterrad häufiger nicht mehr halten. So mussten wir mehrere Gruppen ziehen lassen und waren letztlich auf uns alleine gestellt. Jetzt konnte der Wind vollends sein auszehrendes Spiel mit uns treiben. Es gab kein Entrinnen vor unserem Peiniger, denn wir fuhren unserem Gegner auf schnurgeraden Straßen ohne Autoverkehr direkt entgegen. Die Motivation sank ob des Regens und des Gegenwindes bei KM 140 so ziemlich auf 0, als Udo auch noch einen Schleicher feststellte. Er konnte sich nicht so recht entschließen Hand anzulegen, da der Gedanke der Aufgabe im Raum stand. Also wurde der Reifen vorerst nur wieder mit Luft gefüllt, statt die Ursache zu beheben. Wir schmiedeten den Plan, erst mal bis Havelberg zu fahren, dort dann ausgiebig zu pausieren und die vorhandenen Optionen abzuwägen. Mit wieder prallem Reifen klappte es dann mit dem radeln erst mal wieder ganz gut und für kurze Zeit konnte wir uns auch wieder einer Gruppe anschließen. Aber nach Kurven oder kleinen Rampen fiel es Udo schwer, wieder Fahrt aufzunehmen. Ich sortierte mich hinter ihm ein, um ihn im Bedarfsfalle etwas Schub zu verleihen oder Lücken zu zu fahren. Aber 10 km vor Havelberg war der Reifen wieder platt. Wieder wurde gepumpt und Havelberg wurde mittlerweile zu einem Sehnsuchtsort. Im hiesigen Supermarkt wurden dann Cola und Schokoriegel gekauft, im angeschlossenen Café konnte jedoch nichts warmes erstanden werden, da so kurz vor Feierabend schon alles „gemacht“ sei. 20 Minuten vor offiziellem Ladenschluss fand ich das schon reichlich service-unorientiert. Aber sei es drum.  Die Cola wirkte offenbar Wunder bei Udo. Er hatte zuvor nur Wasser in seinen Trinkflaschen gehabt, so dass es ihm offenbar nur an schnell verfügbaren Kohlenhydraten gemangelt hatte. Das ist natürlich nicht optimal, wenn es auf der Strecke kalt, nass und gegenwindbehaftet ist und einem die Energiespeicher schneller entleert werden, als dieses bei milderen Temperaturen der Fall ist. Da die Lebensgeister wieder geweckt waren, entschlossen wir uns, erst einmal bis Friesack zu fahren. Dort könnte man schauen, wie es um die Befindlichkeiten stünde und notfalls den Bahnhof ansteuern. Mit neuem Mute und abermals aufgepumptem Reifen machten wir uns wieder auf den Weg. Es lief auf einmal wieder rund und wie konnten einen ähnlich angenehmen Rhythmus anschlagen, wie wir ihn eingangs noch in der 5er Gruppe genossen hatten. Ohne Zwischenfälle kamen wir gut voran. Auch die ewig langen, schnurgeraden Schneisen durch die Ödnis konnten die Stimmung nicht trüben.


In Friesack machten wir dann eine Pause etwas abseits der Strecke. Wir freuten uns, nunmehr bereits 210 KM zurückgelegt zu haben und der Regen hatte mittlerweile auch endlich aufgegeben, uns zum Aufgeben bewegen zu wollen. Wir fühlten uns noch fit und statt zum Bahnhof zu fahren, entschieden wir uns, Nauen als nächstes Zwischenziel auszurufen. Von dort wären es nur noch etwa 30 km bis ins Ziel. 

Gerade wollten wir nach einem schnellen Energieriegel und der mittlerweile schon obligatorischen Pumpaktion wieder losfahren, da sahen wir eine etwa 20 Mann große Gruppe. Leider waren wir etwa 200 Meter von der Kreuzung entfernt und mussten uns erst wieder auf die Räder schwingen. Wir versuchten es etwa 10 Minuten lang, die Lücke zur Gruppe zu schließen, aber wir konnten sie nicht entscheidend verkleinern. Also blieb es beim Duett. Schade, das wäre jetzt wohl der Schlafwagen nach Berlin gewesen, aber an diesem Tage wollte uns das Glück wohl einfach nicht übermäßig hold sein…Das war aber gar nicht weiter schlimm, denn der gemeinsam Rhythmus war nunmehr gefunden und wurde beibehalten. Bei KM 240 in Nauen ging es nochmals in einen Supermarkt, um uns für die letzte Etappe zu stärken. Schnell saßen wir wieder im Sattel. Udo’s Reifen verlor nun immer schneller Luft, so dass wir uns kurz vor Berlin noch eine Zwangspause mit Schlauchwechsel einhandelten. Wäre wohl besser gewesen, gleich einen neuen Schlauch einzuziehen, aber zum Zeitpunkt der ersten Panne, schien die Weiterfahrt nach Berlin noch Utopie. Diese Pause sorgte dann dafür, dass wir uns im Dunkeln durch Berlin tasten mussten. Ich zog jetzt das Tempo noch einmal an, da mein Navi akute Akku-Schwäche anzeigte und mir die Strecke noch nicht aus dem ff geläufig war. Das Navi fiel dann genau an der letzten Streckengabelung aus und meine Rückleuchte tat es dem Navi kurze Zeit später nach. Das war aber zum Glück etwa 2 km vorm Ziel, welches wir dann kurze Zeit später wohlbehalten und guter Dinge erreichten. Es war echt nett, dass die ankommenden Fahrer bei der Einfahrt zum Wassersportheim von einem Spalier applaudierender Zuschauer empfangen wurden. Das entschädigte sehr für die zuvor erlebten Strapazen und die etwas nervige Fahrt durch die verkehrsreiche westliche Peripherie Berlins. 

Hamburg, den 23.10.2016 / Stefan