Giro d'Italia 1914 - nachgefahren

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Tim Moore, Gironimo! Ein Mann, ein Rad und die härteste Italien-Rundfahrt aller Zeiten, Bielefeld: Covadonga Verlag, 2014, 378 S., 14,80 EUR.

Von Lars Amenda

Gegenwärtig wird gerne der Blick in die Vergangenheit geworfen und diese dabei nicht selten verklärt, nicht nur aber gerade auch in der Welt des Fahrrads. Junge Erwachsene aus den Metropolen bevorzugen klassische Rennräder, etwas ältere Erwachsene treffen sich zu nostalgischen Ausfahrten, etwa bei der L’Eroica im italienischen Gaiole und bei den mittlerweile nicht wenigen Retro-Veranstaltungen rund ums Velo.

Der abenteuerlustige englische Schriftsteller Tim Moore, der bereits vor mehreren Jahren eine komplette private Tour de France-Rundfahrt bewältigte und gemeinsam mit einem Esel auf dem Jakobsweg pilgerte, ging einige Schritte weiter und schrieb das vorliegende Buch über sein gewagtes Unterfangen. In einem gegenwartskritischen Moment suchte er im Internet nach dem härtesten Radrennen der Geschichte – und stieß auf den Giro d’Italia des Jahres 1914. Über einige Umwege besorgte er sich ein hundert Jahre altes Rennrad, restaurierte dieses französische Exemplar der Marke „Hirondelle“ (Schwalbe) liebevoll und beschloss in einem Anflug von Übermut, vielleicht war es auch Größenwahn, den Giro 1914 mit seiner Gesamtlänge von 3.162 Kilometern auf seinem museumsreifen Gefährt und mit einer entsprechenden Aufmachung („Deppenmütze“ und „Deppenbrille“) nachzufahren. Herausgekommen ist ein höchst unterhaltsames Buch, das eine nicht abreißende Liste von Pleiten, Pech und Pannen äußerst selbstironisch präsentiert und gleichzeitig dem Radsport vergangener Zeiten und den heute zumeist vergessenen Protagonisten der Pionierzeit huldigt.

„Was waren das doch für Kerle!“, entlockt es Tim Moore regelmäßig auf seinem persönlichen, beschwerlichen Radrennen durch Italien. Der Giro 1914 hatte es in der Tat in sich, wie Tim Moore seiner wichtigsten Informationsquelle, einer Abhandlung von Paolo Facchinetti entnehmen kann: “81 Männer fuhren los, und nur acht kamen an. Schreckliche Witterungsbedingungen, fürchterliche Straßen und 400 Kilometer lange Etappen erwiesen sich selbst für die größten Champions von il ciclismo eroico als zuviel …“ Tim Moore erlebt die Torturen der damaligen Beteiligten zwar nicht in ihrer ganzen Härte, er nähert sich diesen aber zumindest an und schreibt auf diese Weise ein ungewöhnliches, um so lebendigeres Radsport-Geschichtsbuch. Von Mailand aus begibt er sich auf die Spuren des Rennens und folgt dem Streckenlauf mit einem, nun ja, höchst modernen Navigationsgerät., was nicht allzu heroisch ist, wie er selber zugeben muss. Diesen kleinen Makel gleicht er aber durch das Fehlen einer Gangschaltung aus, wobei das Hinterrad „immerhin“ über zwei Ritzel verfügte, womit zumindest ein Gang etwas „bergtauglicher“ als der andere war. Und, nicht zu vergessen, die Holzfelgen, die mit Bremsbelägen aus Kork versehen sind, was die Bremskraft im Vergleich zu zeitgemäßen Vorrichtungen dramatisch verringert.

„Riding the Very Terrible 1914 Tour of Italy“, lautet der Untertitel des englischen Originals, das sehr gut von Olaf Bentkämper übersetzt worden ist und erstaunlich direkt den überquellenden und beißenden Humor des Erzählers transportiert. In dem Buch jagt wirklich ein Gang den nächsten, es ist ohne Übertreibung eine Humor-Orgie. Tim Moore lästert über die Italiener, die „schlechtesten Autofahrer der Welt“, und tut dies auf so liebevolle Weise, dass man es ihm kaum übel nehmen kann. Er hat aber auch kein Problem damit, oder besser gesagt: es ist ihm ein Bedürfnis, sich selber als Narren zu inszenieren. Kurz nach Beginn bricht ihm die Spitze seines uralten Ledersattels ab. In einem trostlosen Industriegebiet findet er bei „Pepebike“ vergleichsweise modernen Ersatz: „Sollte ich noch ein weiteres Kind zeugen, gelobe ich hiermit feierlich, es Pepebike zu taufen. Aber nach dem, was ich an diesem Tage durchgemacht habe, glaube ich kaum, dass ich noch einmal zum Zuge kommen werde.“ Die Fahrt hinauf in die in den Alpen, nach Sestriere, verlangt Tim Moore nicht weniger Leidensfähigkeit ab, ganz zu schweigen von den anschließenden Abfahrten auf dem hundert Jahre alten und wenig alltagstauglichem Material bei Geschwindigkeiten von 60 km/h.

Während der Verfasser mit seiner mangelnden Fitness kämpft, porträtiert er die Fahrer des Jahres 1914 wie den späteren Sieger Alfonso Calzolari, aber auch die abgeschlagenen und ausgeschiedenen Teilnehmer. Das Buch pendelt perspektivisch immer wieder zwischen den gegenwärtigen Mühen und den unmenschlichen Anforderungen des Jahres 1914. Mister Moore fährt die Etappen trotz großer Anstrengungen allerdings in mehreren Tagen und dokumentiert damit, welche riesengroßen Strapazen seine Vorbilder auf sich nehmen mussten, denen keine langen Pausen während der acht Etappen und nächtliche Ruhe nur nach diesen vergönnt war.

Auf seiner radsportlichen Zeitreise charakterisiert Tim Moore auch Land und Leute und unterstreicht auf seinem Weg Richtung Süden die wirtschaftlichen und kulturellen Gegensätze Italiens. Mit der Zeit wird er körperlich fitter und kann sich hin und wieder kleine Rennen mit anderen Radsportlern liefern und dabei dem Motto seines Buches „Gironimo!“, einem Wortspiel abgeleitet vom Schlachtruf „Geronimo!“, ein wenig gerecht werden.

Mit jedem Kilometer und mit jeder Seite wächst die Hochachtung vor den Radsportlern vor hundert Jahren, trotz der Tatsache, dass sie angesichts der körperlichen und mentalen Zumutungen auch damals bereits zu „Hilfsmitteln“ wie Alkohol und Aufputschmitteln griffen. Tim Moore verbindet in seinem Buch eigene Leiden und übersprudelnden Humor auf erstaunliche und gelungene Weise. Er setzt der Geschichte des Radsportsports ein eigenes, sehr persönliches Denkmal und macht dies auf solch unterhaltsame Weise, dass der Leser, so ging es zumindest mir, das Buch kaum aus der Hand legen möchte und, falls doch, sich auf die weitere Lektüre freuen darf.

Hamburg, den 4. November 2014

Fotos: Covadonga Verlag