BPB – Brüssel-Paris-Brüssel – 600km-Brevet – 28./29. Juni 2015

Am Ende gab es Schokolade. Zuckersüß ging es aber keineswegs die ganze Zeit auf dem Brevet von Brüssel nach Paris und zurück nach Brüssel zu. Schließlich sollten genau 610 Kilometer zurückgelegt werden, nicht unbedingt ein Zuckerschlecken … Eigentlich wollte ich den mir noch fehlenden „600er“ Ende Mai in Hamburg fahren, allerdings merkte ich am Vorabend um 22.00 Uhr, dass ich noch keinerlei Vorbereitungen getroffen hatte. Dies war ein mehr als klares Zeichen für meine fehlende mentale Einstimmung. Ich entschloss mich deshalb später und woanders zu starten. Es schmerzte ein wenig, zu gerne wäre ich bei der „Brocken“-Tour dabei gewesen – es ging von Hamburg zum Brocken rauf und wieder zurück. Also hieß es für mich anderswo starten. Bloß wo? Viele Möglichkeiten blieben nicht mehr: Ostfalen, Kopenhagen … und Brüssel-Paris-Brüssel, worauf Magnus gestoßen war. Wir beschlossen gemeinsame Sache zu machen und zusammen dorthin zu fahren, um neben radsportlicher „Auslandserfahrung“ auch die Serie von 200-300-400-600km zu komplettieren.

Am Freitag ging es gegen Mittag per Bulli von Hamburg los, ich durfte nach längerer Stau-Abstinenz endlich einmal wieder einen Stau bei Hannover erleben; unterwegs sammelte ich Magnus ein, durchs Ruhrgebiet fuhren wir nach Belgien.

Abends, bei Dämmerung erreichten wir unser Ziel, die Kneipe „Wie anders?“, von der am Samstag Morgen der Brevet starten sollte. Die Kneipe mit dem „putzigen“ Namen hatte allerdings zu, ein belgisches Bier, um genau zu sein: zwei, gönnte ich mir allerdings auf dem zentralen Platz von Groot Bijgaarden, einem westlichen Vorort von Brüssel. Wir präparierten noch unsere Räder, packten die Sachen zusammen und legten uns dann im Bus ca. 30 Meter vom Startort entfernt schlafen.

Am nächsten Morgen wachten wir rechtzeitig auf, es war an der Straße doch etwas lauter als erwartet. Wir verabreichten uns ein schnelles Frühstück, rein in die Klamotten und so langsam sammelten sich auch schon die belgischen Randonneure vor der Kneipe. Die meisten Teilnehmer, Frauen waren nicht darunter, entschieden sich für die De Luxe-Version mitsamt Gepäcktransport und Übernachtung. Wir wollten hingegen die Harte Hunde-Nummer durchziehen: kein Schlaf, keine Dusche, kein Luxus, kein Schnickschnack. Wir waren ja schließlich nicht zum Vergnügen nach Belgien gefahren, sondern wollten ein wenig leiden.

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Ohne viel Tamtam und große Reden fuhren wir pünktlich um 8.00 Uhr los. Es ging Richtung Südwesten zum Wendepunkt namens, kein Witz, St. Witz, nach 280 Kilometern und rund 30 Kilometer von Paris entfernt. (Der Track findet sich hier). Anfangs fuhren wir durch Wallonien, ein Hügel folgte dem nächsten, keine nennenswerten Anstiege, dafür aber ein ständiges Auf und Ab. Zudem mussten wir uns auf dem Hinweg mit seitlichem Gegenwind arrangieren, der spürbar bremste.

Kurz hinter Mons erreichten wir nach 65 Kilometern die erste Kontrollstelle. Die Gruppe von ca. zehn Leuten, in der wir fuhren, machte erst einmal bei einem Kaffee Pause – Magnus und ich beschlossen alleine weiterzufahren. Bald erreichten wir die französische Grenze und durchquerten das Department Nord, ebenfalls recht wellig und hügelig. Es folgte eine traumhafte Strecke auf sehr ruhigen und zumeist kleinen Straßen. Es ging durch Wälder und kleine Ortschaften, bei mir machte sich Urlaubsstimmung breit.

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Bei Kilometer 100 erblickten wir Frank, den Veranstalter und einen Helfer, die in einem Waldstück eine Geheimkontrolle machten. Bei der Gelegenheit gab es für uns ein paar Getränke und ein paar Snacks.

Weiter ging es, allerdings merkte ich alsbald ein Zwicken im rechten Oberschenkel. Eine Krampfneigung kündigte sich an und wollte sich Bahn brechen und das nach rund 110 Kilometern. Nicht wirklich ideal, wenn noch 500 zu fahren sind … Lag es an der langen Autofahrt am Vortag? Ich begann jetzt wirklich zu schwächeln und bekam keinen Druck mehr aufs Pedal. Dazu ständig Hügel und Gegenwind. Negative Gedanken machten sich breit. Ich musste mich immer wieder hinter Magnus zurückfallen lassen, der mir in der Ferne den Weg wies. Ohne sein Navigationsgerät wäre ich zudem aufgeschmissen gewesen, denn die Strecke ohne ein solches zu fahren, wäre sicherlich möglich gewesen, hätte aber vermutlich neun Tage benötigt.

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Es nützte alles nichts: Ich durchlebte eine veritable Krise und das bereits nach verlgeichsweise wenig Kilometern. Die 200 wollte ich aber jedenfalls voll machen, um dann zu schauen ob ich nach den Tausend Toden an den Tausenden Hügeln eine Wiedergeburt erleben könnte. Zudem hatte Frank ein solch menschenleere Strecke entworfen, dass ein Ausstieg per Bus und Bahn praktisch wohl kaum möglich gewesen wäre. Vielen Dank auch dafür noch einmal, Frank! Zudem sprach mir Magnus gut zu, vielen Dank noch einmal für die Hilfe, Magnus!

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Irgendwie ging es weiter. Ich berappelte mich nach einiger Zeit ein wenig. Wir kamen schließlich Paris und damit dem Wendepunkt näher. Die Aussicht auf bessere Winde, sprich: Rückenwind, belebte mich und meine müden Knochen zusätzlich. Ich konnte jetzt endlich wieder die Strecke genießen: die einsamen Straßen, die leeren Dörfer, und auch die Hügel entfalteten auf einmal eine Ästhetik, die mir zuvor noch verschlossen geblieben war. Ungefähr alle 30 Minuten überholte uns einmal ein Auto, teilweise kam es mir vor als ob wir die letzten Menschen auf der Welt seien. Die wenigen Autofahrer waren zudem Franzosen und keine Deutsche – ein Unterschied wie Tag und Nacht, den ich jedes Mal auf dem Fahrrad in Frankreich erlebe.  

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Wir machten jetzt regelmäßig, aber zumeist kurze Pausen. Etwa in Pierrefonds nach 230 Kilometern. Wir konsumierten einiges an gezuckerten Kaltgetränken, sommerlich und warm war es geworden.

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Weiter ging es Richtung Süden. Das letzte Stück zum Wendepunkt in St. Witz, ca. 30 Kilometer nördlich von Paris war wieder ein Waldgebiet, weshalb es angenehm kühl wurde.

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In St. Witz erwartete uns schon Frank, wieder mit Getränken und kleinen Stärkungen. Die erste Gruppe kam uns frisch geduscht und fertig für das abendliche Unterhaltungsprogramm entgegen. Wir verabreichten uns Pizza und Nudeln und machten uns danach fertig für die Nacht.

Es wurde jetzt dunkel. Die folgende Strecke sollte ca. 60 Kilometer durch einen Wald und den Naturpark Oise gehen. Der Abschnitt gestaltete sich recht schwierig für eine Nachtfahrt, da wir auf sehr kleinen Straßen fuhren und ständig mit Schlaglöchern rechnen mussten. Mehrere Male kamen wir Rehen ziemlich nahe, was eine weitere Gefahr darstellte. Dann folgte auch noch eine Sandpassage … Eine Liegeradfahrer schloss von hinten auf und zu dritt versuchten wir die Wege möglichst gut auszuleuchten. Magnus und ich fuhren die ganze Zeit nebeneinander, um mehr Licht zu haben, was ganz gut funktionierte

Wir erreichten Chantilly und das dortige Schloss. Das Kopfsteinpflaster war ein echter Material- und Nerventest. Den sandigen Fußweg konnten wir in der Dunkelheit nicht sehen. Wir erfuhren von unserem Begleiter, dass Ludwig XIV. und die anderen französischen Könige das Gebiet als Jagdrevier verwendeten und zum Plaisir den einen oder anderen Hirsch erlegten.

Unsere Freude stieg beträchtlich als wir aus dem Wald herauskamen und auf größeren Straßen unseren Weg in Richtung  Compiègne fortsetzen konnten. Dort angekommen wollten wir eigentlich unsere Flaschen nachfüllen und ein wenig Essen besorgen. Wir verpassen aber die Stadtmitte und fahren einfach weiter.

Es war jetzt tiefe Nacht. War es tagsüber schon menschenleer, so ist die Gegend nun völlig ausgestorben. Geschlossen waren auch die nächsten beiden Kontrollstellen, eine in Noyon gelegen. Dort begutachtete uns nur die örtliche Polizei aus ihrem Auto und das gleich mehrmals. Haben die Herren französischen Polizisten etwa noch nie etwas von Randonneuren gehört, die die Nacht zum Tag machen?

Die 400 Kilometer machen wir kurz danach voll. So langsam wird es schon ein wenig hell am Himmel. Der Morgen lässt aber noch auf sich warten, während gleichmäßig und gleichmütig pedalieren. Wir durchfahren Péronne, weiter nach Norden, vom Department Somme geht es wieder ins Department Nord. Irgendwann kommt dann der magische Moment: die Sonne geht auf. Es wird hell und wir können frohen Mutes wieder etwas mehr Fahrt aufnehmen.

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So langsam macht sich aber Hunger bemerkbar. In einem Dorf reicht es verführerisch nach frischem Brot und Croissants. Die Bäckereien haben aber leider noch nicht geöffnet. Wir werden müde und beschließen gegen 6.00 Uhr ein wenig in einem „EC-Hotel“ zu ruhen. In einer Filiale von Credit Agricole machen wir es uns gemütlich. Herrlich wie die Geldautomaten wärmen! Nach 15 Minuten wachen wir auf, der Wecker klingelt. Guten Morgen. Wir haben da ja noch etwas vor, fast hätte ich es vergessen. Überraschung, Überraschung: Ich fühle mich recht frisch. Schnell geht es weiter, bevor noch ein Kunde Geld abheben möchte.

Endlich finden wir dann auf dem weiteren Weg eine geöffnete Boulangerie. Die Croissants sind etwas enttäuschen, dafür mundet die Cola ziemlich gut. Dafür sind die Zeichen der kommendenTour de France nicht zu übersehen. Hier und auch andernorts.

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Es wird jetzt immer wärmer und wir genießen die Fahrt. In der Erinnerung verschwimmen die vielen Orte und Dörfer zu einer langen Kette kurzer schöner Momente.

Ein Stück wird aber vor allem in Erinnerung bleiben. Bei Carnières fahren wir zwei Kilometer der Strecke von Paris-Roubaix. Die Pflastersteine in Verbindung mit den Anstiegen und Abfahrten sind im wahrsten Sinne des Wortes eindrucksvoll. Wir machen ein paar Poser-Fotos von uns. (Dieser Teil der Strecke wird auf der vierten Etappe der diesjährigen Tour de France befahren werden, wie ich später erfahren werde).

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Wir überholen irgendwo im Rausch eine Parade historischer und qualmender Traktoren.

Irgendwo anders sind wir auf einmal kurz Teil einer Fahrrad-Demo mit ganz vielen Kindern.

Nach etwas mehr als 500 Kilometern erreichen wir wieder Belgien. Es wird jetzt wirklich heiß. Ich bin mal wieder ganz in schwarz gewandet … Ich muss mal wieder Pause machen.

Wir fahren anschließend sehr lang an einem Kanal entlang. Bäume spenden immer wieder willkommenen Schatten. Ausflügler kommen uns entgegen oder  werden von uns überholt. Wir wollen jetzt wirklich ins Ziel, es ist schließlich schon Nachmittag und so langsam reicht es denn auch.

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Gegen Ende haben wir ausnahmsweise einmal kleinere Probleme mit der Navigation. Nach 570 Kilometern fahren wir durch Geraardsbergen, die dortige „Muur“ müssen wir zum Glück nicht hoch.

Weiter geht es am Kanal. Auf einmal, kurz vor der Ankunft, kommt uns Frank, der Veranstalter, entgegen. Wir seien die 4 und die 5, die ins Ziel eintrudeln. Er geleitet uns ein paar Kilometer zu sich nach Hause nach Groot Bijgaarden. Im Ziel gibt es dann – mal wieder – eine kalte Cola und ein paar Snacks. Wir übergeben unsere Kontrollkarten und berichten über unsere Erfahrungen und bedanken uns. Kurz danach kommt Rick. Wir schnacken ein wenig, wollen aber dann zurück zum Bus, um Essen zu fassen und uns ein wenig dringend notwendigen körperlichen Hygiene widmen. Im Bus machen wir uns lang – und schlafen schnell ein. Das von Frank versprochene belgische Bier verpasse ich deshalb leider, was natürlich äußerst schade ist.

Nach zehn Stunden wachen wir – wie neugeboren – auf. Wir haben die 600 Kilometer zurückgelegt. Wir beide, Magnus und ich, sind die ganze Serie gefahren und damit „Super Randonneur“. Nicht zuletzt sind wir für Paris-Brest-Paris qualifiziert. Es fühlt sich gut an.

***

Vielen Dank an Frank für die wunderschöne Strecke und den Support, tausend Dank an Magnus für die gemeinsame Erfahrung und das zwischenzeitliche „Mitziehen“. Ein Großes Danke auch an Stefan für seinen Bus, der den ganzen Trip deutlich vereinfacht hat.

Brevet fahren in Belgien und  Frankreich – ich bin begeistert! Viel besser kann es nicht werden.

Nach BPB kann PBP also kommen. Bald, im August, ist es so weit …  


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Hamburg, den 1. Juli 2015 / Lars A.