“Nun wachsen uns Flügel” (1898)

Maurice Leblanc, Nun wachsen uns Flügel. Amouröser Roman. Mit einem Nachwort von Elmar Schenkel, Leipzig: Maxime Verlag Maxi Kuschera, 2015 (Velothek, Band 1), 160 Seiten, 19,95 EUR.

Von Lars Amenda

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Um 1900 himmelten viele das Fahrrad an und verglichen das Radfahren mit dem Fliegen. Da es noch keine Flugzeuge gab, konnte ja auch niemand so genau sagen, wie es sich in der Luft und ohne Bodenkontakt so anfühlte. Dem alten Menschheitstraum konnte der Mensch bis dahin jedenfalls nicht näher kommen als eben auf dem Fahrrad. Die damalige Werbung für Fahrräder strotzt denn auch nur so von Flügeln - und oftmals leichtbekleideten Frauen.

In die gleiche Kerbe schlägt auch der Roman „Nun wachsen uns Flügel“ (Voici des Ailes!) des französischen Schriftstellers Maurice Leblanc (1864-1941). Der 1898 erschienene Roman - als “amourös” gekennzeichnet - ist eine reiche literarische Quelle, welche nun erstmals in deutscher Übersetzung vorliegt.

Die Handlung spielt im Pariser Bürgertum des Fin de Siècle, jener so fahrradverrückten und fortschrittsgläubigen Epoche und Metropole. Die Hauptrolle spielen zwei befreundete Paare, Madeleine und Guillaume d`Arjols, und Régine und Pascal Fauvières. Sie beschließen eine Fahrradtour in die Normandie und in die Bretagne zu unternehmen, um der geschäftigen Metropole eine Weile zu entkommen und stattdessen die Natur und die Weite des Landes hautnah zu erleben.

Der Roman feiert die Freiheit der Liebe und die Ästhetik des Fahrrads. Für Letzteres dient vor allem Pascal Fauvières als Sprachrohr: „Was die Schönheit des Fahrrades ausmacht, ist seine aufrichtige Offenheit. Es verbirgt nichts. Seine Bewegungen sind klar zu erkennen, bei ihm sieht und begreift man die Kraftentfaltung, es gbit seine Absicht bekannt, es sagt, dass es sich schnell, geräuschlos und leicht bewegen will.“ (S. 17). Ganz anders sei dies hingegen bei dem noch in den Kinderschuhen steckenden Automobil, das Pascal Fauvières nicht überzeugen kann.

Je mehr sich die beiden Paare von Paris entfernen, desto mehr entfremden sie sich die jeweiligen Partner. Die ständige Nähe auf der Reise bedrückt sie und führt dazu, dass sie die Partner und Partnerinnen “tauschen”. Anfangs ganz unverfänglich, verstärkt sich im Laufe des Romans die erotische Spannung bis aus dem Interesse ein körperliches Verlangen wird. Bebildert wird dieser velophile Partnertausch durch die Illustrationen von Lucien Métivet (1863-1932), die immer “luftiger” werden und die der französischen Origanlauflage entnommen sind.

Der Tenor des Romans ist folglich, dass eine Befreiung des Menschen möglich ist. Ebenso wie das Fahrrad um 1900 grenzüberschreitend war und als solches wahrgenommen wurde, ebenso lassen sich gesellschaftliche Konventionen überwinden auf der Suche nach wahrhaftiger Liebe.

Die Idee und die Sprache von “Nun wachsen uns Flügel”, das von Una Pfau und Matthias Kielwein sehr gut übersetzt worden ist, mag aus heutiger Sicht ein wenig kitschig wirken. Der Roman ist jedoch eine vortreffliche Quelle für die Fahrrad-Manie der Jahrhundertwende, einer Zeit, in der Menschen zwar keine Flügel wuchsen, aber das Fahrrad die Mobilität und damit auch die Erfahrungen der Menschen spürbar erhöhte.

Abgeschlossen wird das Buch von einem Nachwort von Elmar Schenkel, der den Roman von Maurice Leblanc, der vor allem durch seine Romane über den Meisterdieb Arsène Lupin zu Berühmtheit gelangen sollte, in den größeren Zusammenhang einordnet: “Leblancs Roman ist sicher keine tiefsinnige Literatur, sondern ein leichtfüßiger Gesang auf die Liebe, die Freikörperkultur, den Tourismus, den Jugendstil, die Bewegung in der freien Natur und eben das Fahrrad, all dies zusammenbringt und ermöglicht.” (S. 157)

Hamburg-Altona, den 6. April 2016