Hadersleben – Hamburg

Ein Radrennen in Norddeutschland um 1900

Von Lars Amenda

Hadersleben heißt heute Haderslev, liegt in Süddänemark und befindet sich ca. 60 Kilometer nördlich von Flensburg. Bis zur im Versailler Vertrag festgelegten und 1920 durchgeführten Volksabstimmung über die Grenzziehung zwischen Dänemark und Deutschland gehörte Hadersleben zur preußischen Provinz Schleswig-Holstein, verfügte aber über eine bedeutende dänische Minderheit. Gregers Nissen urteilte in seinem Radführer „Von Hamburg auf dem Rade nordwärts“ (1897) etwas abfällig, die Stadt habe „ausser der schönen Marienkirche an Sehenswürdigkeiten weiter nichts“ zu bieten. Wieso startete gerade hier das Rennen, das in der Presse auch als „Fern-Radfahrt“ oder „Dauerfahrt“ bezeichnet wurde?

Als Anfang der 1890er Jahre ein regelrechter Boom an langen Straßenradrennen ausbrach (Paris-Boudeaux 1891, Paris-Brest-Paris 1891, Distanzfahrt Wien-Berlin 1892) wollten die norddeutschen Radsportfunktionäre und -verbände mit einem eigenen Radrennen dokumentieren, dass auch im hohen Norden Deutschlands leistungs- und leidensfähige Radsportler leben. Die vier norddeutschen “Gaue"  des Bundes Deutscher Radfahrer (Hamburg, Bremen, Schleswig-Holstein und Mecklenburg) lobten zusammen 1000 Reichsmark als Preisgeld aus und beschränkten das Teilnehmerfeld auf Radsportler aus den ihren Verbänden. Insgesamt 27 Fahrer meldeten sich zur ersten Ausgabe des Rennens am 9. September 1894, einem Sonntag, um die 250 Kilometer lange Distanz von Hadersleben nach Hamburg zurückzulegen. Die Veranstalter suchten nach einem möglichst nördlich gelegenen Startort und kamen deshalb auf das nahe an der dänischen Grenze gelegene Hadersleben. Die Norddeutschen wollten mit dem Rennen also den Charakter „des Nordens“ betonen, wobei sich Hamburg als überregionales Zentrum als Zielpunkt anbot. Zudem, so meine Vermutung, sprach der Name und der Klang des Rennens, den die Alliteration „Hadersleben – Hamburg“ hat, für Hadersleben als Startpunkt.

Die Strecke verlief über Hadersleben, Apenrade, Flensburg, Schleswig, Rendsburg, Eckernförde, Kiel, Neumünster, Barmstedt, Eidelstedt, und endete an einem Gasthof in der Nähe des Eidelstedter Bahnhofs. Das war für damalige Vorstellungen eine sehr große Entfernung, auch wenn das Rennen bei weitem nicht die Länge der Vorbilder wie Wien-Berlin erreichte. Das Rennen Hadersleben-Hamburg weckte aber dennoch eine große Aufmerksamkeit, insbesondere unter den Radfahrern Hamburgs und Altonas. „Auf der Chaussee nach Eidelstedt“, wie die Altonaer Nachrichten vom 10. September 1894 berichteten, „entwickelte sich gestern Nachmittag ein lebhaftes Treiben. Hunderte von Radfahrern eilten auf ihrem Stahlroß nach dem als Endziel ausersehenen Punkt in der Nähe des Bahnhofs Eidelstedt.“

Christian Andersen aus Kiel, Mitglied des 1887 gegründeten Clubs „Holsatia Kiel“, erreichte als Erster das Ziel, „empfangen von brausendem ‘All Heil'“. Der Sieger benötigte 9 Stunden und 35 Minuten, „eine Leistung, wie sie von Radfahrern bis jetzt nicht erreicht sein soll“, wie die Altonaer Nachrichten überschwänglich und etwas übertrieben jubilierten. Angesichts der schlechten Wege, der eingängigen Fahrräder und widrigen Wetterbedingungen – es regnete beim Start in Hadersleben und auch später in Strömen – war dies durchaus beachtlich; allerdings wurde mit Schrittmachern gefahren, was die Leistung ein wenig erklärlicher macht.

Der Altonaer Bicycle-Club hatte sich ebenfalls für die Teilnahme entschieden und schickte Albert Suhr auf die Strecke. Dieser kam als Zweiter ins Ziel in einer Zeit von 10 Stunden 43 Minuten. Bis auf einen Starter, der unterwegs „marode“ wurde und aus dem Rennen ausstieg, kamen alle Fahrer im Ziel in Eidelstedt an.

Die Erstausgabe von Hadersleben-Hamburg hatte sich als großer Erfolg erwiesen, im folgenden Jahr steigerte sich das Interesse an dem Rennen noch einmal, wenn dem Bericht der Altonaer Nachrichten Glauben geschenkt werden darf: „Mit außerordentlichem Interesse wurde gestern, namentlich in Radfahrerkreisen dem Ausgange des vom Gau veranstalteten Wettfahrens auf der 250 Km. langen Strecke Hadersleben-Hamburg entgegengesehen und eine nach Tausenden zählende Menschenmenge wallfahrtete gestern Nachmittag zu Fuß, per Wagen, per Bahn und per Rad nach dem beim Bahnhof Eidelstedt belegenen [sic] Ziel.“ Der „bekannte Distanzfahrer“ Wilhelm Uren aus Hamburg von der „freien Vereinigung der Einzelfahrer“ siegte bei „schönem Wetter, aber widrigem Winde“ in der Zeit von 9 Stunden und 23 Minuten und unterbot damit die Siegerzeit des Vorjahres („Der Sieger wurde mit nicht endenwollendem Jubel begrüßt.“). Zweiter wurde auch 1895 ein Altonaer Fahrer, allerdings nicht vom ABC, sondern ein gewisser Riecken vom Altonaer Radfahrerverein von 1890.

Für ein Drama sorgte ein schwerer Sturz „wenige Schritte“ vor dem Ziel. Wiegand aus Kiel und sein Schrittmacher Bremer aus Altona wurden von einigen begeisterten Zuschauern zu Fall gebracht: „In der unverantwortlichen Weise hatte ein Theil des Publicums, anstatt die Bahn frei zu halten, sich nach der Mitte des Fahrdamms gedrängt, um die Ankommenden zu sehen. Kein einziger Gendarm war trotz der großen Menschenansammlung am Platze, um die Leute zurückzuhalten.“ Damit bot das Rennen ein Spektakel, gewürzt mit sportlichen Hochleistungen und menschlichen Tragödien, das den kühlen Norddeutschen fast schon südländische Begeisterung entlockte. Die  durch das Fahrrad ungemein gesteigerte Mobilität, die mit Hadersleben-Hamburg plastisch vor Augen geführt wurde, faszinierte die Zuschauer und sicherlich auch manchen Zeitungsleser. Die Tatsache, dass die Teilnehmer kurz hinter der dänischen Grenze gestartet waren und ohne Halt in zehn Stunden bis nach Hamburg fuhren, beflügelte die Phantasie und überstieg bei nicht wenigen die Vorstellungskraft.

Nach den beiden ersten Austragungen scheint das Interesse an Hadersleben-Hamburg dann ein wenig gesunken zu sein. Um 1900 waren für einige Jahre nur noch Fahrer aus dem Gau 1 (Hamburg) startberechtigt, was die Bedeutung des Rennens schmälerte. 1905 öffneten die Veranstalter das Rennen dann wieder für alle Bundesmitglieder. Haertel aus Hamburg gewann in diesem Jahr knapp vor Böhm aus Berlin in einer Zeit von 9 Stunden 59 Minuten und 10 Sekunden. Wieder einmal regnete es reichlich in Norddeutschland, weshalb einige Streckenabsschnitte „unfahrbar“ waren.

Liste der Sieger und ihrer Zeiten aus dem Sport-Album der Rad-Welt (1903), S. 116

Bis ins welche Jahr das Hadersleben-Hamburg ausgetragen wurde, ist nicht ganz klar. In den Jahren nach 1905 schweigen die Altonaer Nachrichten zumindest über die Veranstaltung (wenn sie denn stattgefunden habe sollte). Möglicherweise fand die letzte Ausgabe 1913 statt, bevor der Erste Weltkrieg und die anschließende Gebietsabtretung eine Fortsetzung des Rennens verhinderten. Nach der großen Euphorie der Anfangsjahre verlor Hamburg-Hadersleben jedenfalls an Gewicht. Immerhin hatten die norddeutschen Radsportverbände aber mit dem Rennen auf sich und ihre Fahrer aufmerksam gemacht. Vielleicht war es ja auch schlicht das regelmäßig widrige Wetter und der Dauerregen im September, nicht ganz untypisch für diese Zeit in Norddeutschland, welche einem dauerhaften Erfolg des Rennens in den Augen der Veranstalter (oder der Starter) im Wege standen …

Quellen und Literatur: Altonaer Nachrichten vom 9. und 10.9.1894; Altonaer Nachrichten vom 23. und 26.9.1895; Altonaer Nachrichten vom 20.9.1905; Sport-Album der Rad-Welt (1903).

Hamburg, den 12. Mai 2014 / Lars