Philosophie des Fahrrads (1900)

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Eduard Bertz, Philosophie des Fahrrads, hrsg. von Wulfhard Stahl, erweiterte Neuausgabe, Hildesheim/Zürich/New York: Georg Olms Verlag, 2012 (Erstauflage Dresden/Leipzig: Carl Reißner, 1900).

In den 1890er Jahren, nach der Einführung von Luftreifen, erlebte das Fahrrad einen ungeheuren Aufschwung und erhöhte die menschliche Mobilität beträchtlich. Der Mobilitätsgewinn war so immens, dass es nicht lange dauerte bis die gesellschaftlichen Auswirkungen der neuen, radbedingten Beweglichkeit reflektiert wurden. Im Jahr 1900 veröffentlichte der Potsdamer Schriftsteller Eduard Bertz (1853-1931) seine „Philosophie des Fahrrads“ und versuchte als erster im deutschen Sprachraum, den gesellschaftlichen Nutzen, aber auch potentielle Gefahren des boomenden Radsports und des alltäglichen Radfahrens umfassend abzuwägen. Um es vorwegzunehmen: Bertz neu aufgelegte Fahrradphilosophie ist ein ungemein reiches und wertvolles Zeitdokument, das trotz seiner historischen Verankerung auch manchen Gedankenanstoß für die Gegenwart bereit hält.

Eduard Bertz war ein geistig arbeitender Mensch, der das Radfahren als körperlichen und mentalen Ausgleich schätzte und deshalb in einem positiven Grundtenor über das Fahrrad schreibt. Charakteristisch für ihn ist eine gleichzeitig nationale und internationale Perspektive, die sowohl die volkswirtschaftliche Entwicklung als auch die Beziehungen der Nationen untereinander berücksichtigt: „Auch das Fahrrad ist eines von den Werkzeugen, vermöge deren der Mensch sowohl sich der Erde wie die Erde sich selbst anpaßt; eine Waffe, mit deren Hilfe er ihre Schranken niederzwingt und ihr Herr wird. Und das es ihn so gut wie die Eisenbahnen, ja besser noch, von Land zu Land trägt, so ist es auch seinerseits ein Apostel des Völkerfriedens.“ (S. 9) Radfahren sei „demokratisch“, vereine die verschiedenen sozialen Klassen und verhelfe gerade auch den Arbeitern zu einer sehr zu begrüßenden „Rückkehr zur Natur“. (S. 26) Vor dem Hintergrund der dynamischen Industrialisierung und Urbanisierung seiner Zeit schwärmt Bertz geradezu von den Naturerlebnissen auf dem Fahrrad: „Man ist zeitweise von seinem Ich befreit, geht gleichsam in der Natur auf, schmeckt das Nirwana.“ (S. 100) In dem Fahrrad sieht er also ein Instrument der Emanzipation, nicht nur für Arbeiter sondern vor allem auch für Frauen. Letzteren widmet er ein eigenes Kapitel – von insgesamt zehn (nicht immer thematisch stringenten) – und begrüßt das Fahrradfahren der Frauen ausdrücklich.

Bei allen Lobliedern auf das Fahrrad sieht Eduard Bertz einige Entwicklungen aber auch kritisch. Dies betrifft vor allem den während der Niederschrift seines Buches florierenden Radsport. Mit folgender Empfehlung versuchte er einige Radfahrer zu bremsen: „Wir wissen von unseren Ärzten, daß zwölf bis höchstens fünfzehn Kilometer in der Stunde für den Radfahrer das gesunde Maß ist, dessen Überschreitung ihm mit Gefahr droht.“ (S. 82) Bertz urteilt und verurteilt hier ganz aus der Perspektive des „Genussradlers“, dem der Wettbewerb und der Geschwindigkeitsrausch auf dem Rennrad vollkommen fremd und zuwider ist. Dabei unterscheidet er zwischen Berufsfahrern, die er aus moralischen Gründen noch stärker kritisiert als Amateursportler. (Eine Position, die sich auch der ABC um 1900 zu eigen machte, indem er Berufsfahrer ablehnte und den Amateurgedanken propagierte). Der Radsport habe zudem, und dies sei besonders schädlich, einen ungünstigen Einfluss auf die Jugend, wie Bertz wortgewaltig ausführt: „Übermächtig ist leider der Nachahmungstrieb in der unreifen und unerfahrenen Jugend; darum liegt in dem Vorbild, das sie durch die Rennveranstaltungen beständig empfängt, eine furchtbare Gefahr.“ (S. 86)

Einen kleinen Seitenhieb auf Fahrradvereine kann und will sich Bertz ebenso nicht verkneifen: In den Vereinen werde die „alte Spießbürgerlichkeit“ weiter gelebt und bei vielen Clubs gehe es vor allem um den gemeinschaftlichen Konsum alkoholischer Getränke („Kneipereien“). (S. 108). Damit lag Bertz wohl nicht völlig daneben, zumindest was die „gesellige Zeit“ des Herbstes und Winters betrifft. Hier zeigt sich aber auch sein ausgeprägter Individualismus, der ihn die Gemeinschaften von Radsportlern verdächtig erscheinen lässt.

Das Kapitel 8 trägt den Titel „Das Rad als Bildungsmittel und Kulturbringer“ und bündelt noch einmal die Bertzsche positve Sicht auf den erzieherischen Charakter des Fahrrads. Neben dem Mut des Radfahrers erwähnt er auch ein „Solidaritätsgefühl“ aller Radfahrer, das sich sich zum einen aus der „Unterdrückung“, zum anderen aus der geteilten „Freude“ speise. (S. 156) Das Fahrrad vermehre zudem die „Kenntnisse von Land und Leuten“, lasse „nie gesehene Szenen und Gestalten“ an Radfahrer vorüberziehen und vergrößere damit generell „seine Welt“ (S. 158).

Den „Feinden“ des Fahrrads widmet Bertz ebenfalls ein eigenes Kapitel. Diese erkennt er in Pferdezüchtern und vor allem in Kutschern, die Radfahrer in den Städten und auf den Landstraßen nicht selten drangsalierten. Eduard Bertz ordnet diese Feindschaft in die allgemeine Entwicklung der Industrialisierung ein: „Die gewalttätige Feindschaft der Kutscher gegen das Fahrrad ist eine neue Form des alten Kampfes zwischen Arbeiter und Maschine.“ (S. 173) Die Maschine, also das Fahrrad, bedeutete für Kutscher finanzielle Einbußen, weshalb viele von ihnen den Radfahrern feindlich gesonnen seien. (Vielleicht ist dieses das Verhaltensmuster teilweise noch in der heutigen Zeit anzutreffen, was ich nicht für völlig ausgeschlossen halte, wenn ich einige Fahrmanöver von Taxifahrern denke …). Ein weiterer „Feind“ ist – natürlich – der Fußgänger. Wobei Bertz offen zugibt, dass das das Fahrrad ein „Friedensstörer“ sei und eine „neue Gefahr“ in den Straßenverkehr gebracht habe. (S. 176) Er kritisiert jedoch „die“ Fußgänger für ihre Unachtsamkeit und ihre bisweilen bewusste Gefährdung von Radfahrern.

Alles in allem spricht Eduard Bertz dem Fahrrad einen sehr hohen Wert zu, sowohl in wirtschaftlicher als auch in gesellschaftlicher Hinsicht. Das Fahrrad helfe vielen Menschen wie insbesondere dem Arbeiter und der Frau, beweglicher und unanbhängiger zu werden. Ja, es erziehe den Einzelnen geradezu in positiver Hinsicht, indem es ihn (vor allem dem Städter) einen einfachen und schnellen Weg in die Natur bahne. Aber auch die Gesamtheit profitiere vom massenhaften Gebrauch des Fahrrads, sei es bezüglich des Militärdiestes oder der allgemeinen „Volksgesundheit“. Das Fahrrad stellt für Eduard Bertz trotz aller von ihm genannten Gefahren, insbesondere im Radsport, ein ungemein nützliches Fortbewegungsmittel dar und die Faszination ihm gegenüber ist in der „Philosophie des Fahrrads“ förmlich greifbar.

Die Neuausgabe dieses Klassikers der Fahrradliteratur schließt mit einem Nachwort des Herausgebers, das einige Informationen über den Verfasser enthält, und einem Namensregister mit kurzen Erläuterungen über im Text erwähnte Personen und (Zeit)-Schriften. Lediglich die Auswahl der Illustrationen, die wohl nicht im Orginaltext enthalten waren (Informationen dazu gibt es keine) finde ich ein wenig willkürlich.

Eduard Bertz “Philospohie des Fahrrads“ ist nach wie vor eine sehr lesenswerte Lektüre und ein wertvolles historisches Dokument, das die Begeisterung gegenüber dem Fahrrad im „goldenen Zeitalter“ sehr gut einfängt und wiedergibt und dem fahrradhistorisch Interessierten deshalb nur empfohlen werden kann.

Hamburg, 6. April 2014 / Lars Amenda