Die letzten Kilometer (TCR)
Die letzten Kilometer, das Ziel quasi in greifbarer Nähe, lassen sich einfach so wegrollen. Soweit die Leichtigkeit der winterlichen Planung. Kaffee schlürfender Weise auf dem Sofa sind die Sachen aber immer einfacher.
Die letzten Kilometer vom vierten Checkpoint stellen sich weitaus zäher dar als vermutet. Zahlreiche namenlosen Steigungen und Pässe fordern außerordentlich. Am Rand von Pogradec geht es gleich wieder bergauf. Ich finde eine Landstraße, welche eine deutliche Abkürzung zum Grenzübertritt nach Griechenland darstellt. Wieder stoße ich auf Lebensbedingungen und Armut, die ich in der Nachbarschaft der EU nicht für möglich gehalten hätte. Und gerade in diesen Regionen passiert es mir, dass ich beim Kauf von Obst, immer wieder noch ein Stück geschenkt bekomme, wenn die Straßenhändler von meinem Woher und Wohin erfahren.
An der Grenze zu Griechenland fallen sofort die massiven Grenzsicherungsanlagen ins Auge. Nun bin ich zwar wieder in der EU, aber die Situation ist absolut enttäuschend. Der Straßenbelag verschlechtert sich schlagartig und die Besiedlungsdichte im griechischen Mazedonien scheint äußerst gering zu sein. Ich lebe von ein paar Trockenfrüchten aus der Satteltasche und von der Substanz. Vor der nächsten Stadt mit Versorgungspotenzial ist noch ein seriöser Pass zu bezwingen. Verblüfft entdecke ich auf der Passhöhe alpine Skianlagen mit absolut ernsthaften Pisten. Auf Nachfrage wird mir versichert, dass es in der Regel ausreichend Schnee gibt. Ich erreiche Florina am späten Samstagnachmittag und stehe hungrig vor einem LIDL-Markt, einem geschlossenen LIDL-Markt. Abends in der Hotelunterkunft freue ich mich auf ein angekündigtes Restaurant. Dieses wird auf Grund der Krise derzeit jedoch nicht betrieben. Freundlicher Weise bekomme ich vom Personalessen. Und das ist großartig.
Bis Edessa bleibt die Besiedelung sdichte dünn und ich achte darauf stets ausreichende Wasservorräte mit mir zu führen. Ein, für mich fast überraschend, geöffnetes Café wird sofort von mir geentert. Bei Milch und belegten Broten zelebriere ich den Akt, die letzte Straßenkarte auszupacken. Ab jetzt ist Istanbul stets am rechten Kartenrand zu sehen. Ein gutes Gefühl, ein wichtiger Meilenstein.
Nun wieder im flacheren Terrain läuft es richtig gut. Ich nutze den verkehrsarmen Sonntag um noch an Thessaloniki vorbei zu kommen und allmählich dem Meer entgegen zu streben. Die 80 Küstenkilometer bis Kavala genieße ich sehr. Küsten sind eben einfach mein Ding. Im weiteren Verlauf durchfahre ich zwar einen flachen Küstenabschnitt, aber außerhalb dieses Bereiches sind die Küstenberge durchaus zwischen 700 und 1.400 Meter hoch. Da bleibt der ein oder andere Schweißtropfen auf der Straße.
Rund 40 Kilometer vor der türkischen Grenze stelle ich mir die Frage Quartier suchen oder weiterfahren. Vermutlich besteht erst wieder 65 Kilometer hinter der Grenze die Chance auf ein Quartier. Ich habe definitiv keine Lust im möglicherweise unwirtlichen Grenzgebiet zu stranden. Also verschiebe ich den Grenzübertritt auf den nächsten Tag.
Von der Türkei bin ich sofort schwer begeistert. Die Menschen sind offen und freundlich. Das gilt auch für die schwer bewaffneten Grenzsoldaten, als ich (verbotener Weise) im Grenzbereich ein Foto von meinem Rad vor einem Türkei-Schild mache. Außerdem sind die Straßen viel besser als in Griechenland. Ich kurbel was das Zeug hält, genieße es mit den weltoffenen, sympathischen Menschen und finde abends ein kleines Hotel direkt am Marmaris-Meer. Auf der Terrasse, drei Meter vom Wasser entfernt, führe ich ordentlich Brennstoff für den nächsten Tag zu, den letzten Tag! Istanbul ist nun nur noch eine Handbreit entfernt. Aber es handelt sich auch um eine Karte im Maßstab 1:750.000….smile.
Ich ahne, dass der Tag kapriziöser wird als es den Anschein hat. Da ich um sieben, wie vereinbart, kein Frühstück bekomme, starte ich ohne. Die Zeit drängt. Bisher war die Nationalstraße D110 bestens zu befahren. Ein breiter Seitenstreifen sorgt meistens für entspanntes Fahren. Zehn Kilometer vor Silivri wird die Situation zum reinsten Inferno. Kein Seitenstreifen, eine Halbmeter hohe Abbruchkante oder sehr hohe Leitplanken vereiteln jegliche Fluchtmöglichkeit. Während albanische Trucker kurz hupen um schlichtweg auf sich aufmerksam zu machen und dann vorsichtig und vor allem mit ausreichendem Abstand überholen, meinen es türkische Trucker ernst. Wenn sie hupen, hat man noch 1,5 Sekunden Zeit von der Straße zu verschwinden, restlos. Vier- , fünfmal flüchte ich so ins Nichts und die Trucks donnern mit 15 cm Abstand vorbei. Nicht daran zu denken, auf dem Asphaltband zu bleiben. Ich bin diesbezüglich mit Sicherheit nicht zart besaitet, aber das halte ich für absolutes Harakiri.
Es bleibt daher nichts anders übrig, als einen großen Bogen nach Norden und zusätzliche Kilometer und fette Steigungen zu fahren. Irgendwann bekomme ich die D20 zu fassen und freue mich über die Breite und den hervorragenden Ausbauzustand. Sie dient als Trasse für die noch im Bau befindliche dritte Bosporusbrücke. Der Verkehr ist mau und so kämpfe ich mich gegen den seit zwei Tagen herrschenden hammerharten Gegenwind von 5-6 Beaufort und über endlose Steigungen. Immerhin kann ich auf den Hochpunkten das schwarze Meer sehen. Wie aufregend. Auf den steinigen Boden der Realität werde ich in den Passagen zurückgeholt, wo die D20 noch im Bau ist und sie die Fahrspuren auf eine reduzieren. Und zwar ohne Seitenstreifen… Dazu ist noch zu erwähnen, dass ich mich im Zentrum des Sandabbaus für die Istanbuler Bauwirtschaft befinde. Und in Istanbul wird viel gebaut. In Kolonnen von bis zu dreißig Fahrzeugen donnern die Trucks an mir vorbei. Das sind vielleicht die härtesten Kilometer meines bisherigen Radfahrerlebens. Von der Staubentwicklung ganz zu schweigen.
Genervt und von der erforderlich Konzentration angespannt, steuer ich eine Baustellennische an, um etwas Luft zu holen. Ich bemerke einen Händler mit einem kleinen Transporter, der wohl sein Geschäft mit Bauarbeitern macht. Als ich in die Nische abbiege, ist er gerade in sein Gebet vertieft. Anschließend kommt er auf mich zu und fragt nach dem Woher und Wohin. So gut es geht verständigen wir uns. Er bittet mich Platz zu nehmen und bietet mir Tee und Zucker an. Ein Geschenk des Himmels, denke ich mir. Welch Wohltat. Wir sitzen im Baustellenstaub und obwohl der Austausch von Worten eingeschränkt ist, sind wir uns einig. Als ich nach einer Weile gestärkt weiterziehen und bezahlen will, deutet er mir mit bescheidener Geste an, dass ich sein Gast war und der Tee nicht zu bezahlen sei. Kleine Gesten mit großer Bedeutung. Eine der ganz starken Begegnungen der Tour.
Lange schwingt die Tiefe der Situation nach und hilft mir, mich bis Kemerburgaz gegen die Trucks zu behaupten. Dort verlasse ich die Nationalstraße und erklimme den Naherhohlungsberg bei Bahceköy, dem Einstieg in den definierten Zieltrack. Ja…ZIEL. Es geht nun definitiv nur noch bergab. Wenige Kilometer später lande ich am Bosprorus. Ich bleibe gerührt stehen und hole tief Luft. Die folgenden paar Kilometer zum Ziel sind eine Kür. Es geht direkt am Bosporus entlang und ich bade in dem bunten Treiben nicht weniger bunter Menschen. Diese letzten Kilometer sind eine Versöhnung, speziell für den sehr, sehr anstrengenden letzen Tag.
Bei der Festung Rümeli Hisari ist das Ziel erreicht. Im Café Hisar lasse ich mir um 20:15 den letzten Stempel in die Brevet Karte geben. Erleichtert und zufrieden lasse ich mich in einen der Korbsessel fallen, betrachte mein tapferes KRABO-Rad und den nächtlichen Bosporus. Nach rund 4.500 Kilometern habe ich mein persönliches Ziel erreicht, zu finishen. Es sind zwar kaum noch Fahrer hinter mir unterwegs, aber man darf nicht vergessen, dass mehr als die Hälfte der Starter unterwegs aufgegeben hat. Ich bin zutiefst zufrieden mit mir. Es wird noch einige Zeit zu Hause erfordern, bis die vielen dichten Eindrücke verarbeitet sind.
Doch hier in Istanbul erwartet mich zunächst eine große Überraschung, eine sehr erfreuliche…. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.
Andreas
