Gerd Oberwemmer (25.09.1930 - 28.06.2011)

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Von Oliver Leibbrand

Im November vergangenen Jahres übergab mir der frühere Vorstand des ABC, Dietrich Faust, Gerds alte Radballmaschine, die mich jetzt zu diesem verspäteten und persönlichen Nachruf inspiriert hat. Ich freue mich sehr, dass wir dieses Radball-Fahrrad bei uns im ABC haben und für zukünftige Veranstaltungen, wie die im Mai geplanten Bicycle-Days, nutzen können. Für mich bleibt damit nicht nur ein Stück Radballgeschichte lebendig, denn es wird mich immer an den unglaublich bescheidenen, offenen und liebenswürdigen Menschen Gerd Oberwemmer erinnern.

Als ich an einem Novemberabend 2006 mein erstes Treffen mit ehemaligen Mitgliedern des Altonaer-Bicycle-Clubs von 1869/80 (ABC) habe, fährt er auf seiner Radballmaschine durch die Halle und grinst. Erst viel später erfahre ich, wie erfolgreich Gerd Oberwemmer Radball spielte. An diesem Abend stellt er sich vor, erzählt vom ABC, von gemeinsamen Ausflügen und wie er in den 1960er Jahren, die Radballmaschinen auf dem Autodach festschnallte, um zu Bundesligaspielen zu fahren. Bei unserem nächsten Treffen, saß ich auf dem Rad. Da spürte ich, wie schwer es ist diesen Sport zu erlernen, für den mich der sechsundsiebzigjährige Gerd begeistern wollte. Fahren, Stehen, plötzliche Richtungswechsel, akrobatische Einlagen, Schusstechnik, das erfordert Disziplin ohne Ende.

Während des Radballunterrichts, begann er von sich aus zu erzählen: „Meine Eltern  verschickten mich im Krieg aufs Land“. Vermutlich war das 1943 nach den schweren Luftangriffen auf Hamburg. Die sehr umstrittene „Kinderlandverschickung“ sollte Kinder aus luftgefährdeten Gebieten schützen und die Haushaltskasse der Eltern entlasten. In den KLV-Lagern war zudem für eine bessere Ernährung und „gute Volkserziehung“, nach nationalsozialistischem Weltbild, gesorgt. Gerd kam nach dem Krieg zurück nach Hamburg. Wo er war und was er erlebt hatte, darüber wollte er nicht sprechen. Es gab sogar Fälle, wo eine KLV erzwungen wurde. Gerd erinnerte sich, wie er 1945 am Bahnhof Holstenstraße ankam. Seine Eltern wussten nichts von seiner Rückkehr. Vollkommen orientierungslos versuchte er den Weg vom Holstenbahnhof zur elterlichen Wohnung nach Eimsbüttel zu rekonstruieren: „Nur noch Schutt und Asche, ich war vollkommen aufgeschmissen, denn es gab ja keine Straße auf der ich laufen konnte“, erzählte er mir mit Tränen in den Augen.

Mit sechzehn begann er eine Lehre zum Werkzeugmacher. In den 1950er Jahren trat er dem ABC bei. Radball wurde zum Mittelpunkt seines Lebens. Er trainierte jeden Tag. Gemeinsam mit seinem Partner, Erhard Stüber, bestritt er zahlreiche Turniere und Bundesligaspiele. 1969 gehörte das Team, trotz seines vergleichsweise hohen Alters, Oberwemmer 38, Stüber 37, zur Weltklasse. In der Bundesliga schlugen sie die Ex-Weltmeister Wenzel/Bittendorf aus Krofdorf. Auch mit den mehrmaligen tschechischen Weltmeistern und Radsportlegenden, Jan und Jindrich Pospisil, konnten sich die ABCer Radballer messen. Zum 100-jährigen Jubiläum des ABC trafen sie bei einem selbstinszenierten Länderkampf im Saalsport aufeinander, den die Tschechen für sich entschieden.

Gerd arbeitete nach seiner Lehre als Werkzeugmacher bzw. Maschinist in einer Firma in Eimsbüttel. Nach dem Feierabend ging es sofort zum Radballtraining. “In meiner freien Zeit habe ich immer Radball gespielt, es war mir wichtiger als alles Andere“, sagte er in einem Gespräch, das wir 2008 führten. Seine Ehe sei früh daran gescheitert, weil er zu viel trainiert habe, am Wochenende bei den Spielen war und gar keine Zeit für Kinder gehabt hätte; er bedauerte das rückblickend sehr. Dann wurde er krank, konnte sich nicht mehr auf der Radballmaschine halten. Sporadisch hielten wir beide den Kontakt. 2011 informierte mich seine Lebensgefährtin, dass er krank sei. Ich besuchte ihn im Krankenhaus, er beteuerte auf dem Wege der Besserung zu sein. Die Nachricht von seinem Tod, erreichte mich ein paar Tage später.

Hier ein paar Bilder aus Gerds Zeit als aktiver Radballer:

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Erhard Stüber und Gerd Oberwemmer in Aktion, 1969.

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Beim Länderkampf zwischen der Mannschaft des ABC für Deutschland gegen die CSSR in der ETV-Turnhalle.

Und hier Gerds Radballmaschine der Marke Walther:

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