“Cyclogeography"

Jon Day, Cyclogeography. Journeys of a London Bicycle Courier, London, Notting Hill Editions, 2015.

Von Lars Amenda

[For three years Jon Day worked as a bicycle courier in London, having a huge impact on his views on the city. In the book he reflects on the specific insights of the bike messenger and depicts his ways and „journeys“ on two wheels, being inspired by art and literature. In short: „Cyclogeography“ is a great read for couriers and non-couriers.]

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Fahrradkuriere gibt es schon seit dem 19. Jahrhundert, doch mit den notorischen Staus in den als “autogerecht” geplanten Städten der Nachkriegszeit erlebten sie seit den 1980er Jahren einen Boom. Die Arbeit als Fahrradkurier ist körperlich hart und gefährlich – sie ermöglicht aber auch seltene Einblicke in die Mechanismen und Wege einer Stadt. Für den Fahrradkurier verwandeln sich Karten und Routen zu einem zusammenhängenden Raum von Straßen, Büros, verschiedenen Arealen mit jeweils typischen Gerüchen und Klängen.

Jon Day erzählt im vorliegenden Buch von seinen Erfahrungen als Radkurier in London. Er betont die Besonderheit der „Knowledge“ (S. 3), jene intime Kenntnis der Stadt, ihrer großen und kleinen, abseitigen Straßen, wie sie auch Taxifahrer haben. Für den Kurier kommt der ständige Wechsel zwischen öffentlichem Raum und privaten Sphären hinzu. Selbst für den gebürtigen Londoner Jon Day lernt der Fahrradkurier Jon Day seine Heimatstadt noch einmal auf völlig neue Weise und in ganzen Zusammenhängen kennen. So ist denn auch der Titel des Buches ein Wortspiel mit der „psychogeography“, die Auswirkungen von Architektur und Städten auf die menschliche Wahrnehmung erforschen möchte.

Die Arbeit und die körperlichen Anstrengungen erfüllen ihn, oder anders ausgedrückt, lassen wenig andere Gedanken zu: „I loved the mindlessness of the job, the absolute focus on the body in movement … I loved the blissful, annihilating exhaustion at the end of a day’s work, the dead sleep haunted only by memories of the bicycle.“ (S. 3)

Jon Day beschreibt den Job des Fahrradkuriers in seiner ganzen Ambivalenz, von der (gefühlten) Freiheit bis zur vergleichsweisen schlechten Bezahlung (zumindest seit dem allmählichen Niedergang seit den 1990er Jahren dank Fax und Internet). Er charakterisiert einige schräge frühere Kollegen und interviewt ein paar „alte Hasen“, die nicht ohne Nolstalgie auf ihre frühere Zeiten auf der Straße zurückblicken.

Für Jon Day ist die Arbeit als Fahrradkurier aber auch inspirierend; es ist eine (andere) Art von Lektüre: „Alongside riding London I began to read it.“ (S. 7) Und so verweist er im Laufe seines Textes auf einschlägige Bücher von Samuel Beckett, Alfred Jarry, Luigi Bartolini und einigen anderen. Arbeit und Kunst bilden für ihn zunehmend eine Einheit und beeinflussen sich gegenseitig.

Neben der typischen Kultur, der Subkultur der Fahrradkuriere, die er durch seinen Bruder kennenlernt und die er mit ihren Orten und Rennen (Alleycats) vorstellt, zieht es ihn aber zunehmend auf seinen Touren in der Freizeit heraus aus der Stadt. So fährt er etwa die vom Künstler Richard Long 1967 mit dem Fahrrad geschaffene flüchtige „Skulptur“ nach, die lediglich aus einem Kreis von unsichtrbaren Punkten um London besteht, nach.

Jon Day strebt nach etwas anderen, das bahnt sich im Buch deutlich an und wird immer stärker, Nach drei Jahren hört er als Fahrradkurier auf und arbeitet fortan als lecturer für Englische Literatur an einer Universität in London. Die Zeit als Fahrradkurier hat ihm gleichwohl viel gegeben und viel gelehrt, wie er betont. So sind es denn auch die persönlichen Eindrücke und die klugen Schlüsse aus seinen „Reisen“ als Fahrradkurier, die am meisten Eindruck hinterlassen und die dem Leser London auf eine andere und neue Weise näher bringen.

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Foto/Image: Selim Korycki

Hamburg, den 10. November 2015