Überdosis Fahrrad: Paris – Brest – Paris 2015
„Paris – Brest“ die Kombination der beiden französischen Städte ist Musik in den Ohren von Radsport-Begeisterten, atmet Geschichte und Mythen, selbst ein Gebäck wurde danach benannt. Erstmals 1891 ausgetragen sollte das Radrennen Paris-Brest-Paris (PBP) angesichts der - damals alle Vorstellungen sprengenden - Distanz von 1200 Kilometern die große Leistungsfähigkeit des modernen, luftbereiften Fahrrads demonstrieren. Diese Demonstration glückte vollends und der erste Sieger, Charles Terront, avancierte in Frankreich zum hofierten Star. PBP, das aufgrund seiner Monstrosität, vor der seinerzeit Ärzte angesichts der „Überdosis“ Radfahren ausdrücklich warnten, nur alle zehn Jahre stattfinden sollte, schrieb nicht nur Geschichte, sondern ebnete den Siegeszug des Fahrrads in und außerhalb Frankreichs. Auch in Deutschland, wo in der Folge ebenfalls „Distanzfahrten“ wie Wien-Berlin (1893) die Öffentlichkeit begeisterten. Im Laufe des 20. Jahrhunderts wandelte sich der Charakter vom Radrennen zur Langstreckenfahrt. Die „Randonneure“ (frz. Rad/Wanderer) nahmen sich PBP an und fuhren zumeist „gegen sich selbst“.
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Vor einigen Jahre hätte ich nicht einmal im Traum daran gedacht, eine Strecke von knapp über 1200 Kilometern in wenigen Tagen zu fahren - maximal 90 Stunden gestatten die Veranstalter, der Audax Club Parisien. Das Ziel, in Paris an den Start zu gehen, entwickelte sich bei mir ganz allmählich und fast „automatisch“ durch die Teilnahme an der Brevets der Audax Randonneurs Allemagne (ARA) in Hamburg. Im vergangenen Jahr war es dann irgendwann klar, dass Lars B. und meine Wenigkeit Paris-Brest-Paris fahren werden. Bei mir kommt hinzu, dass ich die Bretagne sehr gerne mag und dort auch schon auf Radreise unterwegs war. Die Vorstellung, von Paris in die Bretagne zu fahren, mit mehreren tausend mehr oder minder „Gleichgesinnten“, war einfach verlockend.
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Eine spezielle
Vorbereitung genehmigte ich mir außer den notwenigen Brevets
(200-600 km) und einigen mittleren bis längeren Ausfahrten nicht.
Die Monate und Wochen verstrichen. Und auf einmal war es soweit und
wir, Lars & Lars, reisten nach Paris. Am Samstag (19.8) holten
wir unsere Unterlagen und die Rahmennummer – meine lautete J303,
Lars war B234 - im Velodrom von St. Quentin en Yvelines ab und waren
angetan von dem babylonischen Sprachgewirr und dem Anblick der
Randonneure aus der ganzen Welt. Bärtige Inder, laute Texaner,
Briten, ältere Franzosen, Japaner, Chinesen, herausgeputzte
Italiener, wortkarge Finnen, massenhaft Deutsche, bis auf Afrika war
wirklich fast die ganze Welt vertreten. Die Atmosphäre war wirklich
besonders und versetzte uns in einige besondere Stimmung.
Am nächsten Tag,
dem Sonntag, sollte es dann endlich losgehen. Stunden vor dem Start
merkte ich, dass ich aufgeregt bin. Wie bei einer Prüfung fühlte
ich mich … und es sollte ja auch eine Prüfung werden. Lars
startete zwei Stunden vor mir und dann ging es endlich um 18.00 Uhr
auch für mich los.
Der Weg raus aus der Stadt war etwas unübersichtlich, es wurde schnell gefahren und die ein oder andere gefährliche Stelle galt es zu umschiffen.
Je mehr wir uns von Paris entfernen, desto ruhiger wird es. Es sind viele Fahrer und Fahrerinnen unterwegs und so wechsle ich fleißig die Gruppen. Langsamere überhole, ich werde von Schnelleren überholt, einige trifft man immer wieder und kommt hin und wieder auch einmal ins Gespräch. Ich überhole noch bei Tageslicht zwei Italiener auf rund 100 Jahre alten Rädern, beide in mausgraue Wolle gewandet und mit obligatorischem Bartschmuck. Unglaublich, 1200 Kilometer mehr oder minder am Stück darauf zurückzulegen.
Es wird dunkel und alle rüsten sich für die Nacht, u.a. mit der PBP-Signalweste. Ich komme für meinen Geschmack ganz gut voran und erreiche nach 221 Kilometern um 2.36 Uhr die erste Kontrollstation in Villaines-la-Juhel. Nach kurzer Pause geht es weiter in die Nacht. Ich lasse mich treiben und fahre möglichst stoisch die Hügel rauf und runter. Eine „Strategie“ habe ich nicht wirklich, mal sehen wie weit ich komme.
Es wird hell. Im
Laufe des Tages steigen die Temperaturen und gegen Mittag habe ich
einen kleinen Hänger. Ich bin mehr oder minder durchgefahren, müde
bin ich zwar nicht besonders, aber die Beine möchten jetzt etwas
Ruhe. Kurz mache ich in der Nähe eines Friedhofs Rast und betrachte
die vorbeifahrenden Teilnehmer. Ich fahre zwar kein Rennen, und achte
auch nicht wirklich auf meine Zeit, aber das macht mich schon etwas
unruhig. Also weiter.
Die Landschaft ist anschließend sehr schön, selbstverständlich auch hier hügelig, und ich genieße manchen Blick. Hin und wieder kommt ein Zug von hinten, manchmal klinke ich mich ein. Einige sind mir aber zu schnell.
Abends wird es kühler, was sehr angenehm ist. Irgendwo vor Brest treffe ich Lars aus Altona, wir fahren anschließend zusammen (und werden dann auch zusammen, viele Stunden später, in Paris eintrudeln).
Die Kilometer vor Brest werden zunehmend anstrengender. Zum einen gilt es den Roc'h Trevezel zu bezwingen. Auf der folgenden Abfahrt nach Brest wird es jetzt, mitten in der Nacht, richtig kalt. Wir fahren ein Stück mit Matt, der die Gabe (oder das Problem, je nachdem …) hat, mit wirklichem jedem Menschen sofort ins Gespräch zu kommen. Der Weg nach Brest wird dann unangenehm kompliziert, es ist dunkel, immer noch hügelig, verwinkelt; ich bin froh als wir nach Mitternacht in der Kontrollstelle ankommen.
Freie Betten gibt es
nicht mehr. Matt kommt mit ein paar Kartons an … „I’ve got my
bed!“ So machen wir das auch. Die Rettungsdecken knistern, ich
nehme die Signalweste als Decke und wir schlafen so zwei Stündchen.
Und welch Wunder: der Schlaf ist erholsam. Wir essen etwas – ich
tippe, dass es belegte Baguettes waren, kann mich aber aufgrund der
ca. 19 Baguettes auf dem Weg nicht mehr so genau erinnern.
Es geht wieder raus
aus Brest. Es ist immer noch dunkel, aber nicht mehr ganz so kalt.
Nebel taucht die Kulisse in eine unwirkliche Stimmung.
Wir haben
über die Hälfte hinter uns. Uns kommen jetzt viele Fahrer entgegen,
auch einige Hamburger erkenne ich. Lars und ich haben ein ähnliches
Tempo, vor allem bergab ist es in Grüppchen – von oftmals
leichtgewichtigen Franzosen und Italienern – uns beiden nicht selten
etwas zu langsam.
Immer wieder stehen
Menschen an der Straße oder rufen uns aus dem Auto zu. Es ist eine
tolle Atmosphäre und es gibt einige Momente, die mich wirklich
rühren. „Allez, allez“ wird mir jedenfalls in Erinnerung bleiben. Irgendwo
kommen mir sogar Tränen angesichts der Schönheit der Landschaft –
oder habe ich es geträumt?
Die nächste Nacht. Um 22.40 Uhr kommen wir in Fougères an. Eigentlich wollten wir hier einige Stündchen ruhen. Die Kontrollstation ist angenehm, doch es zieht uns weiter. So machen wir uns auf den Weg und fahren wieder in die Nacht. Anfangs läuft es sehr gut, wir bilden mit einigen anderen ein kleines Grüppchen. Doch die Strecke bis zur nächsten Kontrollstation zieht sich. Ich sehe Dinge, wie beispielsweise einen Igel auf der Straße, die nicht da sind, wie mir gesagt wird. Irgendeiner, wird später erzählt, soll Elvis Presley in einem Baum gesehen haben; nun gut, so schlimm ist es bei mir zum Glück nicht. Die Dunkelheit, die psychedelischen Lichtreflexe der Lampen und strampelnden Beine haben aber eine berauschende Wirkung. Richtig müde bin ich aber eigentlich nicht.
Um 3.52 Uhr kommen wir in Villaines an. Schnell etwas essen und dann ruhen wir, dieses Mal in einem Schlafraum auf einer echten Matratze.
Morgens werde ich
geweckt. Wo bin ich? Ach ja, stimmt ja, PBP, wieder aufs Rad. Über
1000 Kilometer sind wir jetzt schon unterwegs. Streng genommen reicht
es mir mit Radfahren, aber die Strecke ist nun einmal etwas länger.
Wir schließen uns mit Detlef zusammen und machen zwischendurch immer
wieder mal ordentlich Druck. Wir kommen Paris jetzt immer näher.
Weit ist es jetzt nicht mehr. Wir machen einige Witze, die Aussicht, demnächst vom Rad zu steigen, beschwingt doch ziemlich. Ich freue mich auf ein Bier. Und dann rollen wir auf das Gelände des Velodroms, einige Leute spenden Beifall und ich sehe Lars B. und wir klatschen uns ab.
Es ist geschafft, PBP liegt nach insgesamt 73 Stunden hinter mir (womit ich zwei Stunden länger benötigte als Charles Terront 1891). Im Ziel trinken wir zwei, drei Bierchen und ich genehmige mir eine Dusche. Ich fühle mich ausgelaugt, habe aber bis auf eine etwas zwickende rechte Wade keine größeren Probleme. Ich hatte mir im Vorfeld einen meiner Brooks-Sättel aufs Rennrad montiert, eine weise Wahl, wenn ich mich ausnahmsweise einmal selber loben darf, denn ich hatte an dieser besondere Stelle der Kombination von Mensch/Maschine keinerlei Schmerzen. (Dafür hatte ich einen fiesen Kettenklemmer kurz vor St. Patrick, doch zum Glück war die Verpflegungsstelle mitsamt Radmechaniker nur rund einen Kilometer entfernt. Da hatte ich riesiges Glück).
Im Ziel kommen wir
mit einigen ins Gespräch. Der Niederländer von unserem Campingplatz
erzählt von seinen Eindrücken. Neben uns sitzen auch zwei
Beigleit-Motorradfahrer, mit denen wir ins Gespräch kommen. Sie sind
ehrenamtlich dabei und sorgen für die Sicherheit der
Teilnehmer/innen. Was für eine Begeisterung ist ihren Worten zu
entnehmen. Sie berichten, dass es für sie auch nicht ganz ohne ist,
die lange Strecke abzufahren und auf die Randonneure zu achten. Als
Andenken schenken sie uns einen Aufnäher der „Motards du
Paris-Brest-Paris“. Wir, Lars und ich, sind wahrscheinlich die
einzigen Teilnehmer, die einen solchen Aufnäher bekommen. Die
ehrenamtlichen Helfer, an die 2000 sollen es gewesen sein, machen PBP
jedenfalls zu einer besonderen Veranstaltung. Es mag vielleicht nicht
alles so professionell wie bei anderen „Events“ ablaufen, aber
das Herzblut der Freiwilligen und der Menschen an der Strecke macht
Paris-Brest so intensiv, finde ich.
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Einige Tage erfahre ich leider von Stürzen und Unfällen, von denen auch einige mir bekannte Personen betroffen waren. Ich hoffe, dass alle möglichst bald wieder wohlauf sein werden.
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PBP – es war hart, es war traumhaft schön, es rührte mein Herz, es war eine Überdosis Fahrrad, es reichte irgendwann, es kann durchaus sein, dass ich noch einmal von Paris nach Brest und wieder zurück fahren werde …
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(Tausend Dank an Lars für die Fittiche, Lars für Windschatten und gute Laune, die vielen Helferinnen und Helfer, die begeisterten Menschen an der Strecke, und diejenigen, die mich in den letzten Jahren im Langstrecken-Fahren motiviert und inspiriert haben).
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Für die Freunde der Statistik: hier sind meine Zeiten.
Lars B. fuhr die Strecke in 55 Stunden und war damit fast einen ganzen Tag schneller als ich. Eine großartige Leistung! Hier sind seine Zeiten.
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Fotos: Lars, Lars & Lars.
Hamburg, den 1. September 2015 / Lars A.