Unter Geiern

Um 9 Uhr morgens machte ich mich am vergangenen Sonntag vom Orte meiner alten Heimat im Südoldenburger Land wohl genährt auf den Weg Richtung Hamburg. Mein Routenplan sah hierfür vor, sich südlich von Bremen Richtung Osten zu kämpfen, vor Verden dann nordwärts zu schwenken, die Weser zu queren und auf Nebenpfaden Richtung Hamburg zu fahren, um in Neu Wulmstorf die S-Bahn zu besteigen. Bei guten Beinen wäre dann vielleicht sogar noch die Tour bis zur Elbfähre in Finkenwerder oder gar durch den Hafen und den alten Elbtunnel drin.

Die Optionen B und C verwarf ich jedoch recht schnell, da der aus Nordost und somit weitgehend von vorne kommende Wind etwas gegen ein flüssiges Fortkommen einzuwenden hatte.

Es war bereits am frühen Morgen angenehm warm, so dass ich mich recht bald meines Langarmtrikots entledigte und selbiges in der Satteltasche verstaute. Da es sonntags früh in dem ausschließlich ländlich geprägten Weser – Ems – Gebiet praktisch gar keinen Autoverkehr gibt, überholte mich bis KM 22 handgezählt exakt ein (in Zahlen: 1) Auto. Bei der Ortsdurchfahrt durch Twistringen war dann kurzzeitig „rush-hour“, direkt danach wurde es dann wieder ruhig. Nun ja, bis auf den Autofahrer, der wild hupend an mir vorbeifuhr. Er war wohl gerade mit Reviermarkierungsarbeiten beschäftigt. Kennt man ja. Über diesen Heini konnte ich jedoch nur müde lächeln.

So fuhr ich denn nun meiner Wege bis ich plötzlich sehr unsanft aus meinen Gedanken gerissen wurde. Ich spürte auf einmal einen Schlag und einige unsanfte Kratzversuche an meinem Kopf. Das kam jetzt wirklich aus heiterem Himmel und ich schaute mich erschrocken um. Da sah ich dann schon den Übeltäter. Ein Greifvogel mit ziemlich beeindruckender Spannweite schwebte unheilvoll über meinem Haupt. Ich verdeutlichte dem Geier per Handzeichen und unter Abgesang von schmutzigen Liedern, dass ich von solch plumpen Annäherungsversuchen nicht viel halte und weder eine seltsam langsam fliegende Gans noch sonstiges zum Verzehr geeignetes Getier darstelle.

Ich habe mich dann schnell aus der Gefahrenzone entfernt und der Sturzpilot beließ es bei seiner einmaligen Attacke. Bis auf einige Kratzer habe ich zum Glück nichts weiter abbekommen.

Eine Recherche nach meiner Ankunft zu Hause legt die Vermutung nahe, dass es sich bei dem Draufgänger um einen Bussard gehandelt hat, der seine Brut verteidigen wollte. Sicherheitshalber habe ich mich dann am Abend nach dem noch größeren Aufreger - der knapp gehaltenen Klasse des HSV - in der Notfallambulanz gegen Wundstarrkrampf impfen lassen. Dazu wurden dann noch die Kratzer desinfiziert. Den gestandenen Mitarbeitern vor Ort war nach Erläuterung der Sachlage ein solches Kuriosum auch noch nicht untergekommen und sorgte für erstaunte Gesichter. Der gemeine Stadtmensch lässt sich halt lieber von seinesgleichen aufhübschen als von einem dahergeflogenen Vogel…

Das ganze widerfuhr mir nach ca. 50 km Fahrt kurz hinter der Ortschaft Uenzen. Also falls mal jemand von Euch da durch kommt: Kopf einziehen!

Nach dem das Adrenalin verflogen war, näherte ich mich auch schon der Weser. Bis zu diesem Punkt hatten mich keine 10 Autos überholt. Somit lässt sich für diese Gegend wirklich das Prädikat „traumhaftes Rennradrevier“ auf gut rollendem, weitgehend intaktem Straßenbelag postulieren. Nach der Überquerung der Weser nahm der Verkehr etwas zu. Ich machte Rast an einer Tankstelle, die ziemlich genau bei der Hälfte der Gesamtdistanz für willkommene Erfrischung sorgte. Ein Müsliriegel später und mit vollen Trinkflaschen machte ich mich wieder auf den Weg.

Da ich zuvor größtenteils in östlicher Richtung unterwegs war, hatte ich mehr oder weniger beständigen Seitenwind gehabt. Mit der Weserquerung kam der Wind nunmehr jedoch unbarmherzig von vorne. Aber noch fühlte ich mich ganz munter und da ich mich nur sporadisch mit einem Blick auf das Tacho über die zurückgelegte Distanz informierte, konnte mich die nun sinkende Fahrt-Geschwindigkeit nicht demoralisieren.

Wie eingangs erwähnt war es ein schöner, sonniger Tag. Dieses blieb auch so, bis es sich zwischen Gyhum und Elsdorf bei Kilometer 120 zuzog. Der Wind frischte auf, es wurde merklich kühler und mir wurde klar, dass es hinten raus wohl noch mühevoll werden würde. Und so kam es auch. Das Fortkommen wurde immer beschwerlicher und die letzten 25 km zogen sich schließlich wie Kaugummi. Hinzu kamen dann noch die in dieser Gegend befindlichen leichten Anstiege, über die man für gewöhnlich einfach „drüberdrückt“, aber bei Gegenwind und im leicht angeschlagenen Zustand war mir das nicht mehr möglich. Also hieß es jetzt beißen und die Sache mit Anstand beenden.

Als ich endlich die B73 erreichte und auf den Radweg parallel zur Straße einbog (eine der ganz wenigen Passagen, auf der man überhaupt einen Radweg benutzen musste), war mir klar, dass ich es geschafft hatte. Da konnten mir auch der üble Verkehr auf der Straße und die unschöne Kulisse beidseits der Straße mein Hochgefühl nicht verleiden. Müde aber gut zufrieden bestieg ich nach 165 km die S-Bahn in Neu-Wulmstorf und ließ mich in die Innenstadt chauffieren. Für die Strecke bis Finkenwerder oder durch den Hafen fehlten mir einfach schon die Körner und die Nerven…

Hamburg, den 20. Mai 2014 / Stefan H.