Radlos am Nufenen - Alpenbrevet (5.293 hm, 175 km)

Ich hatte mir bereits vor einiger Zeit vorgenommen, einmal beim Alpenbrevet zu starten. Jedoch aufgrund von mangelnder Form, mangelnder Mitstreiter oder sonstigen logistischen Problemen konnte ich diesen Wunsch bisher nie in die Tat umsetzen. In diesem Jahr passte allerdings alles. Durch meine im Urlaub erradelte Kletterform und der Bereitschaft meines bergerprobten Kumpanes Udo, sich ebenfalls mit den Schweizer Bergen anzulegen, gab es keine Ausreden mehr.

Nachdem wir am Freitagmittag in Meiringen ankamen, nutzten wird das schöne Spätsommerwetter für allerlei Justage-Arbeiten an den Rennrädern und testeten unsere Outdoor-Tauglichkeit beim Zeltaufbau.

Beim Bremsen-Check wurde klar, dass Udo mit seinen Bremsbelägen bei Nässe keinen Berg mehr heile heruntergekommen wäre. Also besorgten wir im Rahmen einer Testtour in einem Radshop in Innertkirchen sündhaft teuren Ersatz. Nach der klitzekleinen Tour, die keine weiteren Auffälligkeiten bezüglich Radtechnik zu Tage förderte, holten wir die Startutensilien ab. Etwas enttäuscht darüber, dass es im Start- und Zielbereich im Prinzip nichts weiter als ein leeres Festzelt zu bestaunen gab, machten wir uns alsbald wieder auf den Weg zum Campingplatz, um letzte Handgriffe an den Rädern zu vollführen und die nötigen Kohlenhydrate für den folgenden Tag zu uns zu nehmen. Nachdem wir uns noch mit unserem Campingnachbarn Alex aus der Nähe von Frankfurt bekannt gemacht hatten, ging es dann relativ früh in die Waagerechte…

Um kurz nach 5 Uhr begann dann der große Tag. Trotz der bereits abends zuvor zurecht gelegten Klamotten und Frühstücksutensilien wollte sich zu so früher Stunde keine geschäftsmäßige Routine einstellen und es verstrich immer wieder wertvolle Zeit, da irgendwelche Dinge wie Fahrradtacho oder Trinkflasche akut verlegt waren.

Die Klamottenfrage wurde heiß diskutiert, denn die Wettervorhersage ließ keine eindeutigen Rückschlüsse auf die einzig wahre Kombination zu. Da ich mit Satteltasche an den Start ging, entschied ich mich für „Nummer sicher“ und wollte lieber zu viel als zu wenig Kleidung mitnehmen. Das zusätzliche Gewicht spielte für mich keine Rolle, denn ich hatte ohnehin nicht vor, beim ersten Start gleich aufs Podest zu fahren. Neben der üblichen „Kurz-Kurz“-Kombination hatte ich noch Arm- und Beinlinge übergestreift. Zusätzlich hatte ich dann noch ein Langarmtrikot für kühlere Temperaturen dabei, welches ich dann bei Bedarf aus der Satteltasche hervorzaubern könnte.

So gewappnet ging es dann auf dem letzten Drücker zum Start und wir reihten uns in die nach eigener Leistungseinschätzung geeigneten Startblöcke ein. Udo wollte lieber etwas weiter hinten starten, um den psychologischen Vorteil des Überholens auf seiner Seite zu haben. Ich reihte mich etwas weiter vorne ein, um die psychologischen Nachteile des stetigen „Überholt Werdens“ in voller Gänze auskosten zu können.

Uns war klar, dass für unser Vorhaben jeder sein persönliches Wohlfühltempo anschlagen sollte und die Tatsache, dass wir unterschiedliche Streckenlängen bewältigen wollten, würde ohnehin zu einer Trennung schon nach dem ersten Pass führen. Also dann gleich von Anfang an jeder für sich. Das hatte im Nachhinein auch den Vorteil, dass sich die Summe der Erlebnisse im Zielbereich verdoppelt hatten.

Kaum stand ich also im Startblock ungefähr in der Mitte des Teilnehmerfeldes ging es auch schon los.

image

Der frühe Morgen war in Meiringen ziemlich grau. Es war ohnehin noch recht dämmerig, aber zum Glück war es trotz der frühen Stunde wenigstens nicht wirklich kühl. Direkt nach dem Start ging es für 2 km fast flach daher. Im Anschluss waren etwa 100 hm zur Aareschlucht zu erklimmen. In recht schneller Fahrt ging es bergan und ich orientierte mich bezüglich der angeschlagene Geschwindigkeit an einem direkt vor mir fahrenden Grüppchen. Wir überholten einige Fahrer, wurden unsererseits aber auch von noch schnelleren Fahrern überholt. Nach Erreichen des Scheitelpunktes ging es dann rasant nach Innertkirchen hinab. Leider meldete sich an dieser Stelle mein Hinterrad lautstark zu Wort. Offenbar war mein mit Gleitlagern versehener Freilauf trocken gelaufen oder durch Regenwasser verschmutzt und er jaulte sporadisch ab einer gewissen Geschwindigkeit ganz fürchterlich. Schlimmer als die Geräuschentwicklung war allerdings, dass der Freilauf nun ab und an als Bremse fungierte und dafür sorgte, dass die Kette manchmal nach hinten gezogen wurde (oder das Schaltwerk nach vorne, je nach Sichtweise).

Hätte das nicht gestern bei der Probefahrt auffallen können? Jetzt konnte ich nichts mehr an diesem Umstand ändern. Mitten im Rennen umzukehren, um die Gleitlager nach Ausbau des Freilaufes zu ölen, war keine wirkliche Option. Ich war nicht 1.000 km in die Schweiz gefahren, um nach 100 hm die Sache für beendet zu erklären. Ich hoffte einfach mal das Beste für die weitere Fahrt und beschloss, den Freilauf so gut es ging aus meinen Gedanken zu verbannen…

Direkt in Innertkirchen ging es rechts ab und dem Grimselpass entgegen. Mit 26 km Länge und 1.540 hm wahrlich kein Zwerg unter den Alpenpässen. Aber auch kein unüberwindliches Hindernis. Die Steigungsprozente sind durchgängig eher moderater Natur und auch das Wetter spielte dahingehend mit, dass trotz geschlossener Wolkendecke der Straßenbelag weiterhin trocken war. Und die Temperaturen waren so angenehm, dass ich mich meiner Armlinge entledigte und den Helm abnahm, da mir besonders am Kopf in den Anstiegen sehr warm wird.

image

Es dauerte nicht lange und ich bekam den Hinweis von einem Mitstreiter, doch lieber den Helm aufzusetzen, da der Veranstalter wohl auf dem Tragen eines Helmes bestehen würde. Ich bin im Prinzip ein sehr verständiger Mensch und halte das Tragen eines Helmes für durchaus sinnvoll. Aber nicht in einem Anstieg bei konstant 10-13 km/h. Da könnte man ja jederzeit vom Rad springen und schneller berghoch laufen, wie ich ja schon am Mont Ventoux selbst erleben durfte. Ich bin mal gespannt, wann man anfangen wird, in der Leichtathletik darüber nachzudenken, eine Helmpflicht einzuführen. Schließlich laufen ja selbst die Marathonläufer mit 20 Sachen über die Strecke! Das ist ja geradezu lebensgefährlich!

Ich ließ es darauf ankommen und beließ den Helm um den Oberlenker umgebunden. Tatsächlich hat mich dann keines der zahlreichen Kontroll-Motorräder oder sonst wer von offizieller Seite auf eine Helmpflicht o. ä. hingewiesen…

Während des Anstieges kam ich mit Oliver aus Berlin ins Gespräch. Ein sehr netter Zeitgenosse, wie sich herausstellte.

Da sich Oliver allerdings für die Platinrunde entschieden hatte und wir ob unseres Gespräches merklich an Geschwindigkeit eingebüßt hatten, wollte er sich dann doch etwas sputen, um nicht Gefahr zu laufen, das Zeitlimit für das entern der Platinstrecke in Airolo zu überschreiten. So zog er dann recht deutlich das Tempo an, dem ich alsbald nicht mehr folgen konnte…

Von einem früheren Besuch in der Schweiz hatte ich noch in Erinnerung, dass in der Auffahrt zum Grimselpass zwei Stauseen passiert werden. Die Wolken am Grimsel hingen ziemlich tief, so dass wir schon weit vor der Passhöhe von ihnen eingehüllt wurden. Irgendwann wurde es merklich flacher und der erste Teilnehmer freute sich schon, den Berg bezwungen zu haben. Aber ich wusste, dass es nur das Flachstück auf Höhe des ersten Stausees war und wir noch einiges vor uns hatten. Vom Stausee selbst war allerdings rein gar nichts zu sehen und ich befürchtete bei einer Sicht von ca. 15 m das schlimmste für die später folgende Abfahrt.

Einige Zeit später wurde dann tatsächlich die Passhöhe erreicht und ich machte schnell ein Foto vom Passschild.

image

Ich fuhr weiter bis zur Labe und füllte meine Trinkflasche wieder auf. Hier traf ich dann auch Oliver ein letztes mal wieder, der sich bereits für die Abfahrt präparierte.

Wahllos griff ich nach Energieriegeln und Brot und zog mir das Langarmtrikot für die Abfahrt an. Meine Sonnenbrille steckte ich mir an den Helm (den ich für die Abfahrt selbstredend ebenfalls aufsetzte), denn mit dieser sah man im Nebel praktisch überhaupt nichts.

Ich rollte also vorsichtig los und hoffte, dass ich möglichst bald wieder die Wolkendecke durchstoßen würde. Doch schon nach wenigen Hundert Metern hatte der Spuk ein Ende! Die Wolken hingen nur an der Nordseite und auf der Passhöhe, auf der Südseite hingegen war alles in gleißendes Licht getaucht. Welch ein Glück! Ich hielt nochmals an und setzte die Brille auf. Bis auf wenige Aussetzer des Freilaufes konnte ich die Abfahrt auch richtig genießen und fuhr flott Richtung Ulrichen talwärts. Nach ausgiebiger Kurven-Zirkelei erreichte ich die Talebene und schlug das übliche Elbdeich-Tempo an. Von hinten war eine Gruppe in der Abfahrt an mich herangerollt und fühlte sich offenbar wohl in meinem Windschatten. Nach einiger Zeit überließ ich die Führung den anderen und aß einen Energieriegel, um mich noch mal für den kommenden Pass zu stärken.

Der Nufenen ist zwar mit 14 km nicht besonders lang, allerdings müssen innerhalb dieser kurzen Wegstrecke 1.132 hm überwunden werden. Unten herein geht es noch etwas flacher zu Werke, aber der Spaß ist spätestens nach 3 km vorbei, denn ungefähr ab diesem Punkt sinkt die Steigung quasi nicht mehr unter 9 % ab. Die Passhöhe befindet sich auf fast 2.500 Metern Höhe und die Luft dort oben ist schon merklich dünner als im Tal.

Gemein an diesem Berg ist auch, dass die Strecke für weite Teile aus elend langen Geraden besteht. Vom Augenschein her sehen diese komplett flach aus, die Beine und die Prozentanzeige des Tachometers sagen allerdings etwas anderes.

image

Das Feld hatte sich bereits am Grimsel recht gut sortiert, so dass man nunmehr nur noch vereinzelt überholte oder überholt wurde. Von einzelnen kurzen Gesprächsfetzen abgesehen, wurde es also etwas ruhiger im Feld. Während des Aufstieges schien die Sonne und da ich ohnehin nichts besseres zu tun hatte, ließ ich die vorbeiziehende Bergszenerie auf mich wirken. Schade, dass in dieser Bilderbuchlandschaft eine Strommasten-Trasse die Illusion einer unberührten Natur jäh zunichte machte. Aber machen wir uns nichts vor, die Straße wurde ja auch nicht von der Natur angelegt. Weiter oben wurden die langen Geraden von Serpentinen abgelöst, die die Fahrt dann doch etwas abwechslungsreicher werden ließen.

Als ich oben ankam, wusste ich nicht so recht, was ich mir von der Verpflegungsstation nehmen sollte. Irgendwie war das alles nicht so recht nach meinem Geschmack. Am liebsten hätte ich ein richtig dick mit Wurst belegtes Brötchen gegessen, aber es gab nur Süßkram und Bouillon. So aß ich einige Bananenstücke, zog schnell das Langarmtrikot an und machte mich an die Talfahrt.

image

image

Auf der Abfahrt gab es ebenso lange Geradeaus-Passagen wie bei der Auffahrt und so ließen sich trotz der aus Betonplatten mit recht großen Dehnungsfugen bestehenden Fahrbahn sehr hohe Geschwindigkeiten erreichen. Auf einer besonders langen Geraden war ich gerade gefühlt einem persönlichen All-Time-Topspeed-Rekord nahe, als sich ganz vehement der Freilauf zu Wort meldete. Er jaulte laut auf und das Hinterrad blockierte kurz. Hinzu kam, dass ich die Kurbel plötzlich nicht mehr in Stellung bringen konnte. Ich erschrak ziemlich und verbremste mich fast in der Anfahrt auf die folgende Kehre. Zum Glück kam an dieser Stelle kein Gegenverkehr, denn ich musste auch die Gegenfahrbahn nutzen, um heile um die Kurve zu kommen. Nach der Kurve hielt ich sofort ganz rechts am Fahrbahnrand an und schnaufte ob des unwillkommenen Adrenalinkicks erst einmal durch. Nachdem ich mich wieder gesammelt hatte beschaute ich mir das Malheur.

Etwas ungläubig schaute ich auf die Kettenführung, die so gar nicht aussah wie sonst. Die hohe Geschwindigkeit und die Freilaufbremse hatten doch tatsächlich 2 Schleifchen in meine Kette gedreht. Wie das funktioniert hat, ist mir bis heute ein Rätsel. Ziemlich perplex und unschlüssig, was ich nun machen sollte, stand ich verloren in der Gegend herum. An dieser Stelle war zumindest an die Behebung des Problemes nicht zu denken. Ständig rauschten Teilnehmer in Abfahrtshaltung an mir vorbei und es gab keinen Platz, an dem ich mich in Ruhe mit dem Rad hätte auseinandersetzen können. Also beschloss ich weiter bergab zu rollen und hegte die Hoffnung, dass es bis zur Verpflegung in Airolo nur bergab gehen würde. Ich rollte vielleicht 5 km, dann wurde es allerdings so flach, dass ich nur noch mit ca. 20 km/h vorwärts kam. Auf einem kleinen, kaum merklichen Gegenanstieg kam ich dann zum stehen. Ich ging ein paar Meter und ließ es dann wieder rollen. Letztlich fuhr ich dann aber so langsam, dass ich mein Vorhaben aufgab, in Schleichfahrt bis nach Airolo zu schippern und hielt in einer Hofeinfahrt an.

Zum Glück hatte ich 2 Paar Latexhandschuhe dabei, die ich für den Pannenfall überstreifen konnte. So saute ich mir wenigstens nicht die Hände und die Klamotten total ein. Die erste Schleife konnte ich, nachdem wieder das für Denksportaufgaben notwendige Blut in mein Gehirn geströmt war, recht schnell auflösen. Dafür musste ich nur die Kette über das große Kettenblatt und die Kurbel nach außen führen. Dann ließ sich die Schleife einfach lösen. Die zweite Schleife allerdings war wirklich tricky. Sie hatte es tatsächlich geschafft sich zwischen Umwerfer und Kassette zu platzieren und nach einigen hilflosen Versuchen, die Schleife irgendwie durch den Umwerfer zu bekommen, war ich schon der Aufgabe nahe. Ich ließ von der Kette ab und zog mir die Handschuhe aus.

Ich versuchte einen klaren Kopf zu bekommen und trat erst mal aus, denn ich musste mittlerweile auch einem menschlichen Bedürfnis nachkommen und machte dafür einen kleinen Spaziergang in die auf der anderen Straßenseite befindliche weitläufige Almwiese. Nach meiner Rückkehr wägte ich meine Optionen ab. So viel ich wusste, gab es keinen Besenwagen auf der Goldrunde. Ich hätte also auf jeden Fall größere Probleme, zurück zum Start zu kommen, wenn ich das Rad nicht wieder flott bekommen sollte. Ich machte erst mal ein Foto von der Schleife und musste lachen, dass mir sowas ausgerechnet während meines Saisonhighlightes und fern der Heimat passieren musste.

image

Mit dem Mute der Verzweiflung zog ich die Handschuhe wieder an und machte mich nochmal ans Werk. Und tatsächlich gelang es nach etlichen Fehlversuchen, die Schleife endlich so zu positionieren, dass sie durch den Umwerfer passte!! Der Rest war dann wie bei der ersten Schleife ein Kinderspiel. Glücklicherweise hatten, dem Anschein nach, weder Umwerfer noch Schaltwerk Schäden von diesem Vorfall erlitten.

Total erleichtert setzte ich meine Fahrt nun endlich fort.

Das Malheur hatte mich bisher geschätzte 30 min gekostet. Hinzu kam, dass sich der  Freilauf nun ab einer gewissen Geschwindigkeit mit stakkatohaften Aussetzern bemerkbar machte, so dass ich gezwungen war, in den Abfahrten so gut es ging mitzutreten, damit die Kette nicht nochmals auf dumme Gedanken kommen konnte.

So erreichte ich nach weiteren ca. 8 Kilometern dann die Verpflegung in Airolo.

Hier machte ich dann etwas länger Halt, um mich ausgiebig zu stärken. Ich traf auch Alex, meinen Campingnachbarn, der mich fragte ob ich eine Panne gehabt hätte? Ich hätte da ein paar Schmierstreifen im Gesicht ;-). Nach kurzer Unterhaltung brach er etwas früher in Richtung Gotthard auf. Für mich ging es um kurz vor 12 Uhr wieder auf die Strecke. Wenn alles optimal gelaufen wäre, hätte ich es möglicherweise vor dem Zeitlimit auf die Platinrunde geschafft, aber das war ja ohnehin nicht mein Ziel gewesen. Ist aber eine gute Erkenntnis, falls mich für eventuell zukünftige Vorhaben diesbezüglich der Wahnsinn packen sollte.

Am Gotthard wehte es recht kräftig den Berg hinunter und der Berg zeigte uns die kalte Schulter. Nach eher unspektakulären bis hässlichen 6 – 7 km, auf denen die Straße immer wieder von mächtigen Straßenbrücken gekreuzt wurde, wechselte der Straßenbelag von Asphalt auf Kopfsteinpflaster. Diese Teilstück entschädigte dann allerdings für die zuvor zu erduldende Verschandelung der Landschaft, denn die sogenannte Tremola legte die Straße in einen ganz wunderbaren, ausladenden Faltenwurf. Und wenn man wegen der kleinen Pflastersteine, die fast an Mosaiken erinnern,  so will, könnte man die Tremola auch das Alhambra der Straßenbau-Kunst nennen.

image

image

image

Natürlich rollte es auf dem Belag nicht sonderlich gut und auch der Wind griff bei jeder zweiten Serpentine frontal an. Aber der tolle Ausblick sowie der mehr oder weniger gänzlich fehlende KFZ- Verkehr entschädigten für alle Strapazen. Aus meiner Sicht, war dies der bisher schönste Anstieg des heutigen Tages gewesen und die 14 km mit knapp 1.000 hm vergingen schneller als erwartet. Weiter oben wurde es empfindlich kühl und der wolkenverhangene und windige Gipfel war kein Ort, an dem man es lange aushalten konnte. Also ganz schnell alle vorhandene Kleidung angezogen und ab in den Nebel.

image

image

image

In der Abfahrt war es naturgemäß noch kälter, aber da ich ja nunmehr ohnehin die ganze Zeit treten musste, konnte ich mich einigermaßen warm halten. Allein die Hände konnte ich nicht vor der Kälte schützen und das war ein echtes Problem. Die Kälte setzte den Fingern arg zu und so fühlten sie sich recht schnell sehr taub an. Schaltvorgänge führte die rechte Hand nur noch verlangsamt aus, auch das Bremsen wurde mehr und mehr zur Qual. Die Straße auf dieser Seite des Gotthard war nass und der Himmel zeigte sein finsterstes Gesicht. Überhaupt sah die ganze Szenerie hier auf der Hauptstraße nicht sonderlich einladend aus. Hinzu kam der nun starke Autoverkehr. Mitten auf offener Fläche kurz vor Andermatt kam die nächste Verpflegungsstation in Sicht. Hier war es sehr zugig und ebenfalls nicht sonderlich warm. Sehr gerne nahm ich die heiße Bouillon an, die die freundlichen Helfer austeilten. Ich traf Alex wieder, der mir erzählte, dass er mich beständig in der Tremola in Sichtweite hatte. Allerdings hatte ich mehrere kurze Fotostopps eingelegt, so dass ich nicht zu ihm aufschließen konnte. Schade, ich wäre gerne mit ihm gemeinsam den Berg hochgefahren.

Nach der zweiten Bouillon fuhren wir dann gemeinsam weiter Richtung Wassen. Allerdings kamen wir nur 500 Meter weit, da uns an einem großen Kreisverkehr die Weiterfahrt untersagt wurde. Ein Straßenbauarbeiter sagte, dass der Verkehr durch die vielen Baustellen auf diesem Teilstück so stark gestaut sei, dass für die nächsten 15 Minuten der Verkehr nur in eine Richtung flösse. So ein Pech, eine Minute früher und wir wären noch durchgerutscht. So standen wir nun an dieser kalten und zugigen Stelle und fingen langsam an zu bibbern. Wir suchten uns einen Unterschlupf neben einem Reisebus und es dauerte nicht lange, da waren wir ca 50-60 Leute, die hier vor dem kalten Wind Schutz suchten.

image

Als es endlich weiter ging, konnte man die Kälte den Radlern tatsächlich ansehen. Manche froren so stark, dass sie am ganzen Körper zitterten und das Rad gleich mit. Das wir uns nur langsam durch die Baustellen bewegen konnten, machte die Sache nicht besser, denn nach wie vor ging es bergab und der Fahrtwind sorgte für weitere Auskühlung. Und vermehrtes Pedalieren zur Wärmeerzeugung war wegen der langsamen Fahrt leider nicht drin. Auch mir war wirklich kalt und ich ersehnte das Ende dieser verfluchten Passage herbei. Als wir endlich in Wassen eintrafen, ging es gleich links hinein in den letzten Anstieg und wohl noch nie hat man ein Fahrerfeld geschlossen aufatmen hören, dass es nun endlich einen Berg hinauffahren durfte! Recht schnell wurde mir wieder warm und ich hielt an, um mich meiner Abfahrtskluft zu entledigen.

Der letzte Berg also war der Susten. Mit 17,7 km und 1.308 hm das letzte große Hindernis für diesen Tag. Hier fiel mir nach kompliziertester Nachrechnung auf, dass ich damit zu diesem Zeitpunkt bereits 4.000 hm in den Beinen hatte! Wow, mehr hatte ich zuvor nur bei der Bekloppten-Tour am Ventoux gesammelt.

Ich hatte schon viel über diesen Anstieg gelesen und hoffte, dass die endlose Gerade, die den Pass hinaufführt, mich nicht demoralisieren möge. Körperlich war ich bereits recht erschöpft und für derlei negative Gedanken somit ein leichtes Opfer. Und obwohl der Susten keine wirklich schlimmen Steigungsspitzen aufwies, saugten die durchgängig zu überwindenden 7-9 % doch stetig auch die letzten verbliebenen Körner aus dem Speicher.

Während des Anstieges bekam ich eine SMS von Udo:

„Bin im Ziel. Versuche warm zu werden!“

Au weia, das konnte dann ja noch heiter werden. Denn auch Udo musste auf seiner Runde über den Susten und die tiefhängenden Wolken am Berg drohten jetzt auch mir Unheil an.

image

Die Auffahrt zog sich endlos und ich fuhr nur mehr im Energiesparmodus wie ferngesteuert dem Pass entgegen. Bereits weit vor der Passhöhe hüllten uns die Wolken wieder komplett ein und es wurde wieder kalt. Verdammt kalt. War ja nach der SMS und der klaren Sicht auf die Wolkenwand nun auch keine Überraschung mehr.

image

Ca. 2 km vor dem Scheiteltunnel hielt ich an und zog mir alle verfügbaren Sachen an, die ich mitgeführt hatte. Aufgrund meiner Erfahrung mit der Abfahrt vom Gotthard zog ich auch das verbliebene Paar Latexhandschuhe an. Ich hegte die Hoffnung, diese könnten der Kälte in der Abfahrt etwas entgegen setzen.

Die Weiterfahrt im dichten Nebel hatte etwas gespenstisches. Man sah im Prinzip gar nichts und als ich den zum Glück beleuchteten Scheiteltunnel erreichte, wurde die unheimliche Stimmung durch das schwach im Nebel durchschimmernde Licht noch verstärkt. Am Ende des Tunnels machte sich eine engagierte Helferin mit einer Klapper bemerkbar und rief in einem Fort „Verpflegung!“ oder „Kontrolle!“ Wenn sie dort nicht gestanden hätte, wären viele wahrscheinlich einfach weiter gefahren, denn die Sichtweite war wirklich sehr eingeschränkt und der Verpflegungsstand etwas abseits der Straße.

image

image

Ich hielt mich nicht lange auf, denn ich war ja bereits voll eingekleidet und Hunger hatte ich auch keinen. Also ging es schnell wieder los in die Abfahrt. Ob der Sichtverhältnisse und der nassen Straße tastete ich mich anfangs langsam von Kurve zu Serpentine. Nachdem ich mich an die nassen Straßen gewöhnt hatte und mich des Bremspotentials der Alufelgen bei diesen Verhältnissen versichert hatte, ließ ich es laufen so gut es ging. Mir war so unglaublich kalt, dass ich keine Sekunde länger in dieser kalten Suppe stecken wollte, als unbedingt notwendig. Meine Zähne klapperten unaufhörlich und es schüttelte mich vor Kälte. Leider waren die Latexhandschuhe keine wirkliche Hilfe. Meine Hände waren schnell so taub, dass ich das Gefühl hatte, den Lenker nicht mehr richtig greifen zu können. Ich glaube, mir war noch nie so kalt.

Trotzdem überholte ich in dieser Abfahrt bestimmt 30 Teilnehmer, die teilweise in Schrittgeschwindigkeit den Berg hinunterfuhren. Zwei Teilnehmer schoben sogar. Wahrscheinlich waren dies vorwiegend Fahrer der Silberrunde. Mancher hätte sich vielleicht vorher genau überlegen sollen, ob Fahrtechnik und Erfahrung wirklich schon für ein solches Unterfangen ausreichen. Das sah wirklich sehr ungeübt aus und zum Teil auch gefährlich ob des nachkommenden Verkehrs.

Als ich endlich durch die Wolkendecke stieß wurde es sofort wärmer und der Straßenverhältnisse wechselten schnell von nass auf trocken. Jetzt ließ ich es noch einmal richtig krachen und im Wissen, dass ich es nunmehr fast geschafft hatte, kurbelte ich euphorisiert mit hoher Frequenz auf meinem „Fixie“ dem Tal entgegen. Die Aareschlucht zwischen Innertkirchen und Meiringen flog ich geradezu hinauf und überholte hierbei noch weitere Teilnehmer. Dann die letzte kurze Abfahrt und Meiringen war erreicht! Hier musste ich noch kurz wegen geschlossener Bahnschranken halten, aber 500 Meter später fuhr ich froh und glücklich durch das Zieltor.

Alex, der im Anstieg noch ein paar Körner mehr übrig hatte als ich, war schon da und wir beglückwünschten uns zu den vollbrachten Großtaten. Im Ziel gab es für die erfolgreichen Absolventen dann noch ein Präsent in Form eines Rucksackes. Schon bald nach Zieldurchfahrt radelten wir dann gemeinsam zum Zeltplatz und ich freute mich auf eine heiße Dusche. Am Zeltplatz empfing uns auch schon Udo, der immer noch versuchte, sich wieder aufzuwärmen, denn der Reissverschluss seiner Windjacke ließ sich auf der Abfahrt vom Susten nicht mehr schließen! Ich mag mir nicht vorstellen, wie sehr er bei der Kälte da oben hatte leiden müssen!

Kurz überlegten wir, ob wir noch am gleichen Tag wieder abreisen sollten, entschieden uns aber doch lieber dafür, den Tag entspannt ausklingen zu lassen und packten am nächsten Morgen nach regenreicher Nacht die nassen Klamotten zusammen und verbrachten den kompletten nächsten Tag mit der Heimfahrt.

Alles in allem ein recht anstrengendes Unterfangen, aber die Freude über das Geschaffte und das Wissen darüber, die Wetterkapriolen, die Panne und - in der Folge - die „Fixie“-Kurbelei überstanden zu haben, lässt auch heute noch ein wenig Abenteuergeist in mir aufkommen und die Strapazen der langen An- und Abreise vergessen…

Hamburg, den 05. Oktober.2014 /  Stefan H.